Die Europäische Union – im Jahre 2012 wurde sie mit dem Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa ausgezeichnet. Nun, sieben Jahre später, zeigt sich, dass dieser Einsatz wohl spätestens an der Grenze des Staateverbundes zu enden scheint.

Die Menschenrechte sowie der damit einhergehende Grundsatz, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, sind in den vergangenen Monaten auf den Grund des Mittelmeers gesunken und mit finanzierter Waffengewalt an der Grenze der Türkei zurückgehalten worden. Man muss deutlich konstatieren, dass die Grundsätze nicht für diejenigen zu gelten scheinen, die in den zahlreichen afrikanischen Ländern ein Boot besteigen, um sich auf den Weg ins ‚gelobte Europa‘ zu machen. Denn um die Zahlen Geflüchteter zu senken, verrät die oft beschworene Wertegemeinschaft EU seit Jahren ihre eigenen Grundsätze und somit einen fundamentalen Teil ihrer Glaubwürdigkeit. In diesem Jahrtausend sind an den Außengrenzen der EU bereits zehntausende Menschen ums Leben gekommen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung sowie wirtschaftlichen und sozialen Missständen. An denen haben nicht selten westliche Staaten, auch europäische, einen großen Anteil, sei es durch zweifelhafte Freihandelsabkommen, durch Waffenlieferungen oder durch die Ausbeutung von Bodenschätzen. Jede*r der zahllosen, namenlosen Toten sowie jede*r, dessen Geschichte von Überlebenden weitergegeben werden konnte, ist Zeuge einer zutiefst menschenverachtenden Politik. Diese resultiert nicht etwa aus spontaner Überforderung, sondern ist mittlerweile eine kalkulierte, systematische Vorgehensweise derer, die denken, sie müssten den europäischen Kontinent zu einer ‚Festung‘ aufbauen. An den Außengrenzen ist Schluss mit Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Es manifestiert sich deshalb der Gedanke, dass die EU bewusst die Toten in Kauf nimmt, sei es als abschreckendes Beispiel für die weiteren Migrant*innen, die folgen könnten, oder als direkte Verhinderung weiterer Immigration nach Europa. Und dieser kalkulierte Tabubruch, der Verstoß gegen sämtliche Werte und Pflichten des europäischen Kontinents, scheint aufzugehen, werden sich die Wahlergebnisse der europäischen Länder angeschaut, ebenso wie die dadurch von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung getragene menschenfeindliche und rassistische Politik, die aus diesen resultiert. Die Wähler*innen geben den Entscheidungen der europäischen Regierungen scheinbar ihre Stimme.

Insbesondere zeigt sich das Kalkül und die eiskalte Aufrechnung von Menschenleben gegen politische Erfolge in der immer weiter fortschreitenden Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung der vergangenen Jahre.

Das Mittelmeer, das am besten überwachte Seegebiet der Erde, wird jedes Jahr, jeden Monat und jeden Tag ein Stück mehr zum Massengrab. Nun könnte gemeint werden, dass es zynisch klinge, im gleichen Atemzug vom sichersten, weil am besten überwachten Seegebiet zu sprechen und dieses dabei als Massengrab zu bezeichnen. Und ja, es ist an Zynismus kaum zu überbieten, dass in der Realität genau das zutrifft. Im Jahr 2019 waren erstmals keine privaten Rettungsschiffe mehr im Einsatz für das Überleben von in Seenot geratener Geflüchteter auf dem Wasser. Durch die Kriminalisierung der NGO wie Seawatch, Lifeline oder ähnlichen sowie der Festsetzung ihrer Boote unter fadenscheinigen Gründen wurde die zivile Seenotrettung lahmgelegt, Monat für Monat bezahlen dies Geflüchtete mit ihrem Leben. Vorwürfe, wie der, dass die Rettungsmissionen ein Pull-Faktor dafür wären, dass Menschen auf der Flucht in Boote steigen würden, sind wissenschaftlich widerlegt, ganz davon abgesehen, dass sich eine menschenverachtende Logik dahinter verbirgt. Oder wollen wir wirklich die Rettung von Menschenleben einstellen, nur damit andere, davon abgeschreckt, Ähnliches unterlassen?

Lediglich die NATO-Mission Sea Guardian sowie die europäische Operation EUNAVFOR MED sind nach wie vor als legal klassifiziert, dienen jedoch ausschließlich dem Kampf gegen illegale Schlepperaktivitäten sowie der Ausbildung der Libyschen Küstenwache. Diese ist aufgrund fehlender Staatlichkeit in Libyen aus verschiedenen Milizen zusammengesetzt und wird von der EU finanziell stark gefördert. Die beiden offiziellen staatlichen Missionen haben in den letzten Jahren nach anfänglichem humanitärem Einsatz keinerlei Menschen gerettet, sorgen stattdessen für Beihilfe zu illegalen Push-Backs nach Libyen, wo es entgegen diverser Aussagen von Politiker*innen keine nach Seerecht anzusteuernden sicheren Häfen gibt. Die Boote der europäischen Missionen umfahren sogar beabsichtigt auf Befehl der zuständigen italienischen Regierung gängige Fluchtrouten, was Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen kürzlich zum Anlass nahm, die deutsche Beteiligung an der Rettungsmission Sophia zu beenden. Damit ist ebenfalls hinfällig, zu glauben, dass die zuvor von der Zivilgesellschaft verteidigten Werte der EU nun wieder von staatlicher Hand durchgesetzt würden. Wenn die EU weiter die Menschenrechte in der Flüchtlingspolitik derart missachtet, kann auch sie selbst ihre Glaubwürdigkeit verlieren und dabei untergehen.

Es fällt schwer, an eine Änderung der momentanen Situation zu glauben. Doch aufgeben, schweigen und wegschauen heißt, den Tod von Geflüchteten, den Tod von Menschen zu akzeptieren. Deshalb ist es an der Zeit, ein deutliches Zeichen zu setzen, sei es im Rahmen von Demonstrationen, in der aktiven Unterstützung der zivilen Seenotrettung oder in der Ablehnung der momentanen europäischen Politik bei Wahlen. Lassen wir nicht zu, dass im Namen von uns europäischen Bürgerinnen Menschen sterben. Dies kann und darf in einer Gesellschaft niemals Normalität sein.

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