Foto: Lina Kim & Michael Wesely: Brasìlia, 2004.

Im hinteren rechten Bildgrund schwebt ein diffuser Lichtstreifen am Himmel und findet seinen Abschluss mitten im Nirgendwo außerhalb des Bildrandes. Die Äste einer Palme im Vordergrund sind von der Kamera unscharf eingefangen, links daneben tanzt ein undeutliches Lichtspiel, dessen Ursprung unklar bleibt. Die Gebäudefassade im äußersten linken Bildrand erscheint nebensächlich im Vergleich zu den genannten anderen Bildaspekten.

Menschenleere und Schattenlosigkeit vermitteln dem Betrachter eine künstliche und gespenstische Atmosphäre. Letzteres könnte als Grundmotiv für die Aufnahmen von dem deutschen Fotografen Michael Wesely und seiner brasilianisch- koreanischen Kollegin Lina Kim gelten, die sich von 2003 bis 2010 auf eine fotografische Spurensuche in Brasiliens Hauptstadt Brasília begeben haben. Seit dem 14. Mai sind ihre Arbeiten in der Kieler Kunsthalle zu sehen.

Als Brasília in den 1950er Jahren entstand, wurde sie als höchstes Ideal gehandelt, das einer Stadt zugeschrieben werden kann. Mit dieser Zielsetzung gilt sie als eines der spektakulärsten architektonischen Vorhaben der Moderne. In ihr sollte sich ein harmonischer Ausgleich zwischen Architektur, Natur und Mensch realisieren. Im Zustand einer Baustelle wurde Brasília nach nur vier Jahren Bauphase 1960 eingeweiht und gleicht seitdem mehr einer architektonischen Legende als einem realen Lebensraum für Millionen Bewohner.

Der in Berlin lebende Wesely ist vor allem durch seine extremen Langzeitbelichtungen mit selbstgebauten Lochkameras bekannt geworden. Als er 2002 zur brasilianischen Biennale, eine der größten Weltkunstausstellungen, nach Sao Paolo eingeladen wurde, besuchte er zum ersten Mal Brasília. Anfänglich hatte er nur Fotos machen wollen. Doch nachdem er im stadteigenen Archiv Einblick in die frühe Bauphase der Stadt erhalten hatte, beschloss er sein Projekt auszuweiten: „Ich hatte nie einen vergleichbaren Ort gesehen“, sagt Wesely.

Zusammen mit Kim begab er sich in die Vergangenheit Brasílias und sammelte historisches Fotomaterial – von der Bauphase bis zur Fertigstellung einer Großstadt mitten im Nirgendwo. Zeitgleich fotografierten sie selbst im heutigen Brasília, wobei ihre Perspektivwahl maßgeblich von den historischen Archivalien beeinflusst wurde. Aber auch ungewöhnliche Perspektiven vom Zentrum und der Peripherie blieben nicht unentdeckt. Ergebnis dieses künstlerischen Schaffens ist eine beeindruckende Gegenüberstellung von historischem Bildmaterial und Gegenwartsaufnahmen, die die „Frage zum Verhältnis von gestalterischer Planungsutopie und architektonischer Ausführungsrealität aufwirft“.

Foto: Lina Kim & Michael Wesely: Eixo Monumental, 2004.

32 großformatige Langzeitbelichtungen sind 300 kleinformatigen historischen Aufnahmen gegenübergestellt. Das Künstlerpaar belichtete ihre Gegenwartsmotive jeweils von 6 Uhr bis 18 Uhr. Mittels dieser langen Belichtungszeit entstanden Aufnahmen, die durch diffuse Lichtverhältnisse und Schattenlosigkeit den utopischen Charakter Brasílias verstärken: Neben mammuthhaften Gebäuden sind Menschen wie eingefroren festgehalten. Grünflächen finden ihren Platz zwischen gläsernen Riesen und futuristischen Kuppelbauten ohne Fenster.

Kim und Wesely zeigen in voller Bandbreite ein Spiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit fotografischer Bildproduktion. Ergänzt wird die Ausstellung durch 150 Laserprints auf der Galerie der Kunsthalle. Anette Hüsch, die Leiterin der Kieler Kunsthalle, hat dieser besonderen Schau ebenso besondere Räumlichkeiten geben lassen: Der 25- jährige Anbau der hiesigen Kunsthalle des Kieler Architekten Diethelm Hoffmann wurde extra für die Ausstellung frisch gestrichen und alle eingezogenen Wände wurden entfernt.

Ein ausstellungsbegleitendes Rahmenprogramm gibt zudem Einblicke in die konkrete Arbeit des Brasília-Projekts. Filme, Führungen und Künstlergespräche sollen auf das Thema „Stadtvision“ eingehen. Der gleichnahmige Katalog zur Ausstellung „Archiv Utopia. Das Brasília-Projekt von Lina Kim und Michael Wesely“ liegt als erste Publikation dieses Projekts auf Deutsch und Englisch in der Kunsthalle zu Kiel vor. Die Ausstellung wird noch bis zum 28. August 2011 in der Kieler Kunsthalle zu sehen sein.

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