An US-amerikanischen Colleges und insbesondere Universitäten etabliert sich ein neuer Trend: Übervorsicht und -sensibilität. Um zu vermeiden, dass Studierende sich angegriffen fühlen, werden streitbare Redner kurzerhand ausgeladen, ‚trigger warnings‘ eingeführt oder ganze Themen gar nicht erst behandelt.

So veröffentlichte die Professorin für Rechtswissenschaften an der Harvard University, Jeannie Suk, einen Artikel im New Yorker, in dem sie von einem Kollegen berichtet, der von seinen Schülern gebeten worden sei, kein Sexualstrafrecht zu lehren. Das Thema könne bei den Studierenden Stress verursachen. Ein anonymer Dozierender schreibt in seinem Essay I’m a Liberal Professor, and My Liberal Students Terrify Me, er müsse extrem aufpassen, was er im Unterricht sage, damit sich am Ende niemand beschweren könne. Ähnlich sieht es bei Comedians aus, die teilweise nicht mehr auf den Campus auftreten wollen. Sowohl Chris Rock als auch Jerry Seinfeld raten, sich von Colleges fernzuhalten. Diese seien zu konservativ. Witze über Gottes Nonexistenz? Undenkbar, schließlich sollen sich gläubige Studierende nicht auf den Schlips getreten fühlen. Damit wird das Recht auf freie Meinungsäußerung aufs Schärfste eingeschränkt.

Dabei geht es, obwohl in der Presse oft behauptet, nur bedingt um Political Correctness. Vielmehr stehen die Gefühle der Studierenden und die – vermeintliche – Verletzung derer im Vordergrund. Ein Beispiel für die weit verbreitete Übervorsicht sind die bereits erwähnten ‚trigger warnings‘. Dies sind Alarmhinweise, welche die Dozierenden ihren Lektürelisten beifügen, sollten die angegebenen Bücher, auf wie auch immer geartete Weise, Unwohlsein hervorrufen. Ein Beispiel ist F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby. In dem Buch werden sowohl körperliche Gewalt als auch Misogynie thematisiert. Studierende, die bereits Opfer von Gewalt geworden sind, können die jeweiligen Werke auf diese Art meiden, um so nicht an frühere Ereignisse oder Traumata erinnert zu werden.

Des Weiteren stehen sogenannte Mikroaggressionen im Fokus. Darunter fallen beispielsweise Wörter oder Fragen, die zwar nicht boshaft oder verletzend gemeint sind, aber durchaus so verstanden werden könnten. Demnach wäre es diskriminierend, einen Lateinamerikaner zu fragen, wo er geboren wurde. Denn dies impliziere, dass er kein ‚echter‘ Amerikaner sei. Diese Angst nimmt irrsinnige Ausmaße an. Die Asian American Students Association der Brandeis University im Osten des US-Bundesstaates Massachusetts kreierte im April dieses Jahres eine Installation, um auf Mikroaggressionen gegen asiatisch-amerikanische Studierende aufmerksam zu machen. Ein Beispiel war der Satz „Müsstest du nicht gut in Mathe sein?“. Allerdings wurde die Installation selbst als verletzend empfunden und musste schließlich abgebaut werden.

Das oberste Ziel ist, die Psyche der Studierenden zu schützen. Zu diesem Zweck werden sie in Watte gepackt. Überraschenderweise geht diese Entwicklung jedoch nicht von den Präsidien oder Dozierenden aus, sondern von den Studierenden selbst. Dadurch sollen sich die Campus zu sicheren Orten entwickeln, an denen die jungen Erwachsenen abgeschirmt werden. Dieses Verhalten begrenzt die Möglichkeiten zu Diskussionen und Dialogen. Anstatt sich mit unbequemen Aussagen auseinander zusetzen, werden sie unter den Tisch gekehrt oder sollen im besten Fall gar nicht erst getätigt werden. Jedes Wort muss mindestens zweimal überdacht werden.

Aber warum ziehen die Unis bei der Verhätschelung überhaupt mit? Das liegt vor allem an einer Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Präsidien, respektiven Dozierenden und Studierenden. In dem Essay I’m a Liberal Professor, and My Liberal Students Terrify Me schreibt der anonyme Autor über ein verändertes Klima, das vor allem durch die Wahrnehmung der Studierenden als Konsumenten erzeugt werde. Als solche hätten sie die Möglichkeit, Beschwerde gegen jeden Affront einzulegen, während die Lehrenden nur wenig Option hätten, sich zu den Vorwürfen formal zu äußern. Die Gefühle eines Studierenden zu verletzen, könne die Dozierenden in große berufliche Schwierigkeiten bringen. Arbeitsplätze im akademischen Sektor seien hart umkämpft, die Zahl der unbefristeten Stellen gehe kontinuierlich zurück. Um bloß kein Risiko einzugehen, würden die Lehrkräfte ihren Unterrichtsstil dem ‚Kuschelkurs‘ anpassen. Studierende – oder meist eher deren Eltern – bezahlen häufig horrende Summen für die Studienplätze. Werden die Erwartungshaltungen der Konsumenten nicht erfüllt, muss neu justiert werden, auch, wenn das zu einer Überbehütung führt. Damit liegt die Ursache für das Abschaffen der Streitkultur auch beim Hochschulsystem.

Die Auswirkungen sind verheerend. Die Studierenden werden geradezu als Kindergartenkinder angesehen. So können sie die Uni nicht als mündige Bürger verlassen, die sich kritisch mit verschiedenen Meinungen auseinandersetzen und von ihren Argumenten so überzeugt sind, dass sie diese verteidigen können. Stattdessen befinden sie sich während ihrer gesamten Hochschullaufbahn in einem gegen alle äußeren Einflüsse geschützten Kokon. Selbst Präsident Obama griff das Thema im September in einer Rede in Iowa auf und kritisierte, das „Coddling“ der Studierenden sei nicht der richtige Weg, zu lernen. Halten die Universitäten an diesem Kurs fest, nehmen sie sich ihre eigene Aufgabe, die schon seit Sokrates der Lehre zugrunde liegt: Den Horizont zu erweitern, sich kritisch mit Themen auseinanderzusetzen und dabei immer wieder seinen eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Bleibt zu hoffen, dass sich die amerikanischen Unis wieder an Sokrates Ansätzen orientieren und eine zivilisierte Streitkultur reetablieren.

 

Autor*in

Maline ist 25 und studiert Deutsch und Politikwissenschaft im Master an der CAU. Sie ist seit Mai 2015 Mitglied beim Albrecht.

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