Ein Kommentar

„Ich lebe mein Leben weiter wie gewohnt. Ich lasse mich nicht einschränken.“ Das Mantra der westlichen Welt. Sätze dieser Art schnappe ich in meinem Freundeskreis immer wieder dann auf, wenn es um die Urlaubsplanung oder Festivalbesuche geht. Denn eine neue Komponente muss in die Diskussion miteinbezogen werden: die Terrorgefahr. Dass diese Platz in unserem alltäglichen Leben einnimmt, ist schon schlimm genug. Terroranschläge sind mittlerweile Alltag in der medialen Berichterstattung. Aber beeinflussen sie auch unser persönliches, unser gesellschaftliches Verhalten?

Beim Schlendern auf der Kieler Woche ertappe ich mich. Ich denke: „Hier sind so viele Menschen. Wenn ich Terrorist wär‘, dann wäre hier der perfekte Ort für einen Anschlag.“ Auf Großveranstaltungen wie Konzerten schaue ich mich nach Fluchtwegen um und stelle mit Erschrecken fest, was ich da eigentlich mache. Ich taxiere an Bahnhöfen die Menschen um mich herum. Beobachte, ob sie schwitzen, ob die Männer gerade frisch rasiert sind, welche Koffer sie bei sich tragen, wie lang die Kleider der Frauen sind. Und das alles unbewusst. Entscheide ich wirklich selbst, ob ich mir ein Stück meiner persönlichen Freiheit nehmen lasse oder passiert das schon von alleine? Ich stelle fest: In dem Moment, in dem ich mich nach Fluchtwegen umschaue, bin ich unfrei. In dem Moment, in dem ich für den Fall der Fälle plane und mich frage, ob ich Verdacht schöpfen muss, wenn mir Fremde begegnen, bin ich unfrei. Das sind Gedanken, die ich früher nicht hatte. Vor den Anschlägen in Paris, Berlin und London habe ich die Veranstaltungen, die ich besuche, nicht nach ihrem Terroranschlag-Potenzial bewertet.

Nach Terrorattacken werden betroffene Gesellschaften weltweit  immer wieder dazu aufgerufen, sich von Angriffen dieser Art nicht spalten zu lassen. Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die elementaren Grundrechte unseres Zusammenlebens, müssen aktiv verteidigt werden. Doch unbewusste Reaktionen auf die Terrorgefahr, wie das Misstrauen gegenüber Fremden, schlagen sich in meinem Verhalten nieder und betreffen meine persönliche Freiheit. Überlege ich mir zweimal, ob ich jetzt nach London fliege, um eine Freundin zu besuchen oder lasse ich mich in meinen Planungen tatsächlich nicht einschränken? Ich überlege es mir zweimal, und fliege trotzdem. Vieles ist ohnehin wahrscheinlicher, als in London Opfer eines Attentats zu werden. Laut dem Südkurier ist es zum Beispiel 1 149 mal so wahrscheinlich, dass ich auf dem Weg zum Flughafen an etwas wie einem Bonbon oder Ähnlichem ersticke. Öffentliche Gewalt zielt auf die Ängste der Bevölkerung ab, will Menschen gegeneinander aufhetzen, auseinanderreißen.

Eine offene Gesellschaft ist nur wehrhaft, wenn die Mehrheit diesem Versuch widersteht und die Mechanismen der eigenen Angst versteht und reflektiert. Ich schaue mich nach Fluchtwegen um, anders als früher, aber tanze trotzdem weiter. Ich schaue mir die Menschen am Bahnhof an und versuche, ihnen mit einem Lächeln zu begegnen. Meine Freiheit, den Menschen nicht mit Vorurteilen zu begegnen, will ich mir nicht nehmen lassen. Genauso wenig wie meine Reisefreiheit. Ein mulmiges Gefühl schwirrt ab und an herbei. Wie die nervigen Wespen, die unbedingt einen Platz auf meinem süßen Crêpe ergattern wollen. Aber solange ich mich nicht davon abhalten lasse, ihn trotzdem zu verspeisen oder auf das Samy Deluxe Konzert zu gehen, obwohl etwas passieren könnte, ist ein mulmiges Gefühl verkraftbar.


Titelbild: flickr / Andreas Trojak

Autor*in

Maxi ist 20 Jahre alt und studiert Deutsch und Philosophie an der CAU. Sie ist seit dem Wintersemester 2016/17 Redakteurin beim ALBRECHT und schreibt vor allem für die Ressorts Gesellschaft und Hochschule.

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