Wir alle kennen sicherlich das flaue Gefühl im Magen vor einem wichtigen Vortrag oder das fast unerträgliche Kribbeln im Bauch vor dem ersten Date. Das sind alltägliche Formen der Angst und Nervosität. Nicht schön, aber da muss jeder Mensch ab und zu durch. Und wenn die Situation dann erstmal überstanden ist, bekommen wir als Belohnung diese wundervoll beflügelnde Erleichterung. So jedenfalls im Optimalfall. 

Mein Leben ist leider sehr weit entfernt vom Optimalfall, denn ich leide unter einer generalisierten Angststörung, so lautet der viel zu lange Fachbegriff. Angststörung reicht eigentlich voll und ganz aus, denn dieses Wort benennt schon genau mein Problem: Meine Art, Angst zu empfinden, ist gestört. Vor ein paar Wochen hat mich zum Beispiel meine beste Freundin zum ersten Mal in Kiel besucht und ich sollte sie vom Bahnhof abholen. Sie musste dann eine halbe Stunde auf mich warten, weil ich so nervös war, dass ich mich mehrmals übergeben musste und den Bus, den ich nehmen wollte, verpasst habe. Ich glaube, es ist offensichtlich, dass das nicht normal ist. Damit ihr verstehen könnt, was das heißt und warum ich hier so offen darüber rede, möchte ich ein bisschen aus meiner Vergangenheit erzählen. 

Ich kann nicht mit dem Finger auf den einen genauen Zeitpunkt zeigen, an dem alles angefangen hat. Je älter ich werde, desto mehr Situationen aus meiner Kindheit fallen mir jedoch ein, die mit der Diagnose der Angststörung zu erklären sind. Ich hatte schon als kleines Kind starke Verlustängste meinen Eltern gegenüber – weitaus stärker und einschränkender als das normale Heimweh. Die meisten Übernachtungen bei Freunden waren eher Kampf als Freude für mich, weil ich eben von meinen Eltern getrennt war. Ich hatte sogar eine Phase, in der ich zu Hause nicht einschlafen konnte, wenn meine Mutter nicht im Raum war. Sie musste dann jeden Abend so lange an meinem Bett sitzen bleiben, bis ich eingeschlafen war. So nahm diese Krankheit wohl ihren Anfang. Im Laufe meines Lebens ist dann immer klarer geworden, dass ich mit Stress und Angst nicht normal umgehen kann und – was eigentlich noch viel belastender ist – dass ich auch in Situationen Angst oder sogar Panik empfinde, in denen es für Außenstehende, und oft auch für mich selber, gar keinen Sinn ergibt.  

Bild: Craig Adderley, Pexels

Bevor ich die Diagnose bekommen habe – und zwar erst mit 18 Jahren – war der Druck, der auf mir lastete, oft unerträglich. Warum war ich so? Warum konnte ich nicht einfach normal sein? Warum zur Hölle muss ich mich übergeben, bevor ich mit meiner Freundin ins Kino gehe, obwohl das eigentlich eine schöne Sache ist? Zusätzlich merkte ich, wie ich meine Eltern belastete. Ich konnte mir selbst nicht erklären, was mit mir los war und ihnen ebenso wenig. Sie wollten mir immer nur helfen, hatten aber keine Ahnung wie. Auch die Situation in meinem Freundeskreis wurde schwierig: Wie sollte ich auch erklären, dass ich den bevorstehenden Urlaub auf Sizilien absagen musste, weil ich zu viel Angst davor hatte. Angst vor Urlaub?! Wer sollte das schon verstehen?  

Das Schweigen muss gebrochen werden

Ich konnte es meinen Freunden nie übelnehmen, dass sie meine Probleme nicht verstanden haben. Schließlich kommen Angststörungen – wie die meisten anderen psychischen Erkrankungen – im öffentlichen Diskurs so gut wie gar nicht vor. Menschen reden in den meisten Fällen nicht darüber. Das muss sich dringend ändern.  

Ich möchte erklären, wie sich so eine Panikattacke anfühlt, weil die meisten Menschen dieses Gefühl (zum Glück) nicht kennen und es dementsprechend nicht verstehen können. Natürlich kann ich das nicht allgemeingültig beschreiben, aber für mich persönlich fühlt es sich so an: Das Gefühl kommt meistens schleichend und mit meiner langjährigen Übung, so möchte ich es nennen, erkenne ich mittlerweile schon die ersten Anzeichen. Kopfdruck und -schmerzen, verspannte Muskeln, flauer Magen, Schwindel, Herzstolpern, grundlose Niedergeschlagenheit, Rauschen in den Ohren – sowas eben. Wenn ich da nicht gegenwirke, zum Beispiel durch einen Spaziergang, ein Glas Wasser, Ablenkung oder einen Mittagsschlaf, befinde ich mich schnell in einer Abwärtsspirale. Ich konzentriere mich zum Beispiel auf das Herzstolpern und merke dadurch die ganzen „asynchronen Hüpfer“, die eigentlich ganz normal sind. Dann kommen die Gedanken: „Was ist los?“, „Habe ich einen Herzinfarkt?“, „Oh Gott, mein Atem geht ja auch ganz flach!“, „So kann ich unmöglich rausgehen und mich mit meiner Freundin treffen!“, „Was, wenn ich hier und jetzt sterbe?“ 

Bild: Christiana Rivers, Unsplash

Letzterer Gedanke ist für mich der schlimmste und wenn dieser erstmal in meinem Kopf ist, dann ist es unendlich schwierig, mich irgendwie wieder zu beruhigen. Wie soll ich der Todesangst auch so einfach entfliehen? Ich weiß mittlerweile, dass ich auf eine bestimmte Weise atmen kann, um mich zu beruhigen, oder dass beispielsweise eine feste Umarmung – eher schon ein Umklammern – meines Freundes hilft. Aber bis hierhin war es ein langer Weg. 

Es hat viele Jahre und mehrere Therapeuten gebraucht, um mich dahin zu bringen, wo ich heute bin. Und noch etwas anderes hilft mir, mit dieser Krankheit zu leben: Antidepressiva. Die Medikamente helfen gleichzeitig gegen die Angststörung und gegen die Depressionen, die mit ihr in meinem Fall einher gehen. Erst durch diese Tabletten, die ich mittlerweile ungefähr seit anderthalb Jahren nehme, kann ich sagen, dass es mir wirklich gut geht. Ich habe sie in meiner schlimmsten Phase verschrieben bekommen, im Frühsommer 2019. Zu der Zeit konnte ich das Haus nicht ohne Panikattacke verlassen. Es stand im Raum, ob ich die Schule abbrechen sollte, weil ich mich nicht mehr in der Lage sah, regelmäßig hinzugehen. Jeder Schulweg war ein Kampf für mich. Ich hatte meine Beziehung beendet, weil selbst diese Bindung, die eigentlich eine schöne sein sollte, mich in Panik versetzte. Das Schlimmste war aber, dass es sich für mich anfühlte, als würde das alles nie wieder besser werden. Ich war fest davon überzeugt, ab jetzt für immer so leben zu müssen. Ich sah ein dunkles Leben vor mir, voller Panik, Kopfschmerzen, Übelkeit und ohne Hoffnung. Zum Glück fand ich dann – quasi in letzter Sekunde – den richtigen Therapeuten für mich. Die Therapie in Kombination mit den Tabletten hat mir langsam aber sicher ein einigermaßen normales Leben ermöglicht. Ich habe sogar mein Abitur geschafft und bin in ein normales Sozialleben zurückgekehrt. 

Der Weg den Berg hinauf

Und jetzt bin ich hier. Frisch nach Kiel gezogen, neu an der Uni, in einer glücklichen Beziehung, voller Vorfreude auf das, was die Zukunft für mich bereithält. Vor einem Jahr wäre das für mich noch vollkommen unvorstellbar gewesen. Jeden Tag, an dem ich in meiner eigenen Wohnung in Kiel aufwache und mich an den Laptop setze, um für die Uni zu arbeiten, kann ich es kaum glauben, dass ich es tatsächlich bis hierhin geschafft habe. Natürlich gibt es auch schwierige Tage, an denen ich wieder aus dem Nichts eine Panikattacke bekomme. Vor allem der Umzug hierher und der Start in einen neuen Lebensabschnitt war natürlich mit viel Unsicherheit verbunden, welche die Angststörung hin und wieder als Futter genutzt hat. Der Unterschied zu damals ist, dass ich jetzt Mittel habe, das Ganze durchzustehen. Ich habe außerdem das Glück – im Gegensatz zu vielen anderen Menschen mit einer Angststörung – dass ich mir einen sehr verständnisvollen Freundeskreis aufgebaut habe und ich weiß, dass auch meine Familie immer hinter mir steht. Dadurch ist mir klar geworden: Es ist es wert, jeden noch so dunklen Tag zu überstehen.  

Jetzt, wo ich ein größtenteils glückliches Leben führen kann, möchte ich etwas weitergeben. Ich möchte anderen Menschen, die unter Angststörungen oder ähnlichen Krankheiten leiden, zeigen, dass sie mit ihren Problemen niemals alleine sind. Und ich möchte Menschen, die von dieser Krankheit verschont geblieben sind, erklären, was es damit auf sich hat.  

Inzwischen erkläre ich die Angststörung in Kurzform so: 
Da ist ein Feuer in meinem Kopf. Mittlerweile ist es nur noch eine kleine Flamme, es war aber auch mal ein Großbrand. Genug Wasser, um das Feuer komplett zu löschen, werde ich wohl niemals besitzen. Ich habe aber Mittel und Wege, um die Flamme so klein zu halten, dass sie mir nur noch selten weh tut. Denn die Kontrolle über mein Leben habe ich und nicht dieses verdammte Feuer in meinem Kopf. 

Autor*in
stellvertretende Chefredakteurin

Mira ist 22 Jahre alt und studiert seit dem WiSe 2020/21 Soziologie und Deutsch an der CAU. Sie ist seit November 2020 Teil der ALBRECHT-Redaktion und leitete ab Februar 2021 für ein Jahr das Ressort Hochschule. Ab Februar 2022 war sie für ein Jahr die stellvertretende Chefredakteurin.

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