Gefühlte Wahrheiten und alternative Fakten

Postfaktisch ist ein Begriff, der seit Sommer 2016 ständig in den deutschsprachigen Medien vertreten ist. „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen“, so Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede Mitte September. Doch was soll mit dem Wort ,postfaktisch‘ genau ausgedrückt werden? Wörtlich übersetzt aus dem Lateinischen heißt es ,nach, im Sinne von hinter den Fakten‘. Passender wären wohl die Bezeichnungen ‚contrafaktisch‘ oder auch antifaktisch gewählt, was so viel bedeuten wie ,nicht den Fakten entsprechend‘ oder ,die Fakten widerlegend‘ und so die Bedeutung des Wortes postfaktisch genauer beschreiben würden. Allerdings soll mit dem Präfix ,post‘, wie es ähnlich bereits bei der Postmoderne oder auch dem Poststrukturalismus der Fall ist, eine neue Epoche benannt werden.

Laut der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) steht postfaktisch in unserer Gesellschaft für einen tiefgreifenden sozialen wie politischen Wandel. Der Wahrheitsgehalt von Aussagen scheint keine bedeutende Rolle mehr zu spielen. Im Mittelpunkt stehen die Emotionen und Gefühle, welche die Aussagen auslösen. Ersetzt werden die belegten Fakten in politischen Auseinandersetzungen nun von den sogenannten ,gefühlten Wahrheiten‘. Insbesondere durch die sozialen Medien, welche heutzutage von vielen als Hauptinformationsquellen genutzt werden, verbreiten sich solche einseitigen und emotionalen Beiträge schnell, unabhängig ihres Wahrheitsgehalts. Diese Verbreitung von falschen Informationen auf facebook, Twitter und Co beeinflusst unsere Meinungsbildung. Gleichzeitig führt sie dazu, dass Fakten nicht mehr als Fakten angesehen werden, sondern als Behauptungen der sogenannten Lügenpresse gelten können. Doch kann aus diesem Grund bereits von einem postfaktischen Zeitalter gesprochen werden? Jedenfalls wurde das Adjektiv ‚postfaktisch‘ am 9. Dezember 2016 von der GfdS zum Wort des Jahres 2016 ernannt. „Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ‚die da oben‘ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren“, begründet die GfdS. Auf den zweiten Platz wurde das Wort ,Brexit‘ gewählt, welches das Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU beschreibt. Es stellt gleichzeitig ein Beispiel für erfolgreiche postfaktische Politik dar. Nach Äußerungen des GfdS wird vermutet, dass die Befürworter ein mehrheitliches Votum für den Austritt des Vereinten Königreichs aus der EU durch Fehlinformationen erreicht hätten.

Dass ‚postfaktisch‘ keine Erfindung aus dem Jahr 2016 ist, ist bekannt, allerdings stand es wohl noch nie so stark im Fokus wie in letzter Zeit. Ein Hauptgrund dafür ist vor allem der US-Präsident Donald Trump. Sein Wahlkampf während der US-Präsidentschaftswahlen ist ein prägendes Beispiel für postfaktische Politik. Trump verbreitete vor allem via Twitter zahlreiche Halbwahrheiten und Falschmeldungen, auch ,fake news‘ genannt. So behauptete er beispielsweise, Barack Obama sei der Gründer der Terrororganisation Islamischer Staat.

Auch die Alternative für Deutschland (AfD) ist dafür bekannt, Behauptungen aufzustellen, die nicht ganz den Fakten entsprechen. So verbreiteten AfD-Kreisverbände auf facebook, es gäbe eine aktuelle Reisewarnung nach Schweden aufgrund einer akuten Terrorgefahr. Das Auswärtige Amt stellte jedoch klar, dass es sich hierbei um eine Lüge handle. Die AfD räumte daraufhin ein, es gäbe eine solche Reisewarnung nicht. Gelöscht wurde die Fake-Nachricht dennoch nicht und bleibt unverändert auf der facebook-Seite stehen. Dass Lügen nun ,alternative facts‘ genannt werden, dafür muss sich wohl Kellyanne Conway, die Beraterin des US-Präsidenten Donald Trump verantworten. Nachdem Trump behauptete, seine Vereidigung wäre die größte der Geschichte gewesen, veröffentlichten Medien Bilder, welche diese Behauptung offensichtlich widerlegten. Zu sehen war die Gegenüberstellung der Amtseinführungen von Obama und Trump, wobei erstere deutlich mehr Besucher aufwies. Trumps Regierungssprecher Sean Spicer behauptete daraufhin, die zum ersten Mal verwendeten Bodenplatten seien schuld daran, da diese auf den Bildern die Menge hervorheben würden. Allerdings entspricht diese Behauptung nicht der Wahrheit, da solche Bodenplatten bereits seit 2013 verwendet wurden. Kellyanne Conway äußerte sich in einem Interview zu Sean Spicers Aussage, dieser hätte lediglich alternative Fakten genannt.

Die Frage, ob wir uns also tatsächlich in einem postfaktischen Zeitalter befinden, führt zum Streit zwischen den Anhängern verschiedener Meinungen. Auch die ALBRECHT-Redaktion beschäftigt sich mit dem Ja und Nein zu dieser Frage und versucht dabei, so faktisch wie möglich zu bleiben. Die gegensätzlichen Standpunkte werden in den nachfolgenden Kommentaren genauer beleuchtet.

Autor*in

Johanna studiert seit dem Wintersemester 2016/17 Deutsch und Soziologie an der CAU. Sie ist seit Oktober 2016 Teil der ALBRECHT-Redaktion. Von Juli 2017 bis Januar 2019 war sie als Ressortleiterin für die Kultur verantwortlich. Sie war von Februar 2019 bis Januar 2022 Chefredakteurin des ALBRECHT.

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