Ihr besucht ein Konzert und seid einer von vielen Menschen, die sich wahnsinnig darauf gefreut haben, den*die Künstler*in live auf der Bühne stehen zu sehen. Immerhin ist das der Deal – diese besondere Atmosphäre, die ihr zu Hause niemals bekommen würdet, egal wie laut ihr die Musik aufdreht oder wie oft ihr die entsprechenden Musikvideos guckt. Es geht um den Moment.

Und dann steht da vor euch diese Person, die den gesamten Abend über ihr Smartphone hochreckt wie eine Trophäe, die draufhält und das Geschehen dokumentiert. Am Ende hat sie das Konzert für sich konserviert, um es in endloser Wiederholung neu aufrufen zu können. Dafür zahlt sie einen Preis. Sie nimmt das gesamte Schauspiel, noch während es läuft, durch den Schleier das Handybildschirms wahr.

 „Wir kennen diese Person hinter dem Bildschirm deshalb so gut, weil wir sie selber sind.“ „In dem Augenblick, wo wir den Moment noch erleben sollten, ist er für uns schon archiviert.“

Natürlich nehmen die wenigsten Menschen ein gesamtes Konzert am Stück auf. Was das Beispiel dennoch so bestechend macht, ist seine Allgemeingültigkeit. Wir kennen diese Person hinter dem Bildschirm deshalb so gut, weil wir sie selber sind. Es wird Zeit, das einmal ernst zu nehmen. Ich habe den Eindruck, diese kleine Momentaufnahme ist sinnbildlich für ein aktuelles Problem – oder zumindest eine akute Veränderung – in Bezug darauf, wie wir heutzutage unsere Erinnerungskultur pflegen.

Das referenzlose Zeichen

1981 hat der französische Philosoph und Medientheoretiker Jean Baudrillard ein Buch herausgegeben mit dem Titel Simulacres et Simulation. In diesem entwirft er das Konzept des titelgebenden Simulacrums, über das vor ihm bereits große Geister wie Roland Barthes und Jacques Derrida nachzudenken begonnen hatten. Das Simulacrum beschreibt ein Zeichen, das seine Referenz verloren hat und nunmehr nur noch auf sich selbst verweist. Unser ganzes Leben besteht aus Zeichen – Schrift, Bilder, Gebärden; fast alles lässt sich als eine solche bedeutungstragende Einheit begreifen. Simulacren lassen sich mit Baudrillard im Hinterkopf gerade dort entdecken, wo unsere analoge Welt in die digitale übergeht. Ein gutes Beispiel dafür ist das Telefon-Symbol auf allen gängigen Smartphones. Kinder, die heute aufwachsen, wissen meist nichts mehr mit der fremdartigen Darstellung eines Hörers anzufangen, der das Tastenfeld des Handys öffnet. Es erinnert in keinster Weise an die Form des vertrauten, kastenförmigen Smartphones. Seine ursprüngliche Referenz – die Hörmuschel des Kabeltelefons – wurde verdrängt. Das Zeichen wurde entleert und erfüllt nur noch einen Selbstzweck.

Ich bin der Ansicht, das gleiche Prinzip übersetzen wir gerade auf die Art und Weise, wie wir uns Erinnerungen schaffen – ohne dass wir es wirklich merken. Soziale Medien und das allgegenwärtige Smartphone laden dazu ein, potenziell jeden Moment unseres alltäglichen Lebens festzuhalten. Dabei sollten wir uns fragen: Geht es uns wirklich um diese Erlebnisse? Oder nur noch um die Aufzeichnungen, die auf sie zurückverweisen?

Erinnern im Zeitalter digitaler Medien

Wenn wir ein Event wie ein Konzert besuchen, dann ist uns das Drumherum – die Gerüche, die stickige Schwüle – mittlerweile egal. Im Kopf verweilen wir ganz woanders. Wir sind in Gedanken dabei, das Spektakel auf sein Like-Potenzial abzuprüfen, zu überlegen, welche Performance sich am besten zum Aufnehmen eignet. Unsere Aufmerksamkeit gilt nicht der Bühne, sondern der Perfektionierung unseres eigenen Mitschnitts. Denn nur er ist es, der in der digitalen Öffentlichkeit übrigbleibt. Er wird hier zur geteilten Erinnerung.

In dem Augenblick, wo wir den Moment noch erleben sollten, ist er für uns schon archiviert. Und je öfter wir im Anschluss von dem vermeintlichen Highlight berichten und unsere Aufnahmen stolz herumzeigen, desto stärker setzen sich diese in unseren Köpfen fest. Der eigentliche Abend gerät mehr und mehr in Vergessenheit. Wir brauchen uns nicht mehr zu erinnern und wir wollen es auch gar nicht mehr.

So schaffen wir uns unsere eigenen Simulacren. Wir verschwinden in unseren Bildern. Ich bezweifle, dass das wirklich in unserem Interesse sein kann. Die Veränderung muss in uns selbst anfangen, im Dunkel jenes Konzertsaals. Wenn dann die Entscheidung fällt, einfach mal den Rest auszublenden und sich wirklich auf die Magie des Moments einzulassen, dann ist viel gewonnen.

Autor*in

Frederik ist 25 Jahre alt und studiert an der CAU Gegenwartsliteratur und Medienwissenschaft im Master. Er ist seit April 2019 Teil der Redaktion des Albrechts.

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