„Jedes Mal, wenn ich nur durch das Gleisbett vom Plöner See getrennt auf dem Bahnsteig stehe, habe ich das Gefühl, im Jenseits angekommen zu sein. Oder in der Heimat. Bist du gestorben, bringt dich der Zug zum Bahnhof von Plön.“
Christopher Ecker, Der Bahnhof von Plön

Vorweg zwei Warnungen. Erstens: Diese Buchkritik ist nicht gänzlich frei von Spoilern. Zweitens: Wer sich mit Christopher Eckers neuestem Roman in den Lesesessel setzt und nun eine sich um den Plöner Bahnhof entspinnende Handlung erwartet, wird enttäuscht. Den Bahnhof selbst erreicht der Protagonist erst nach einigen hundert Seiten. Die Reise dorthin – wie sollte es auch anders sein – ist gespickt mit Schwierigkeiten und Umwegen. Doch beginnen wir am Anfang. Phineas lebt und arbeitet in New York. Seine Tätigkeiten sind vielseitig und von skurrilster Art. Dies zeigt sich schon bei seinem ersten Auftrag: In einem verruchten Hotel muss er, ohne Sinn und Zweck dieser Aufgabe zu verstehen, buchstäblich einen Haufen Leichen von einem Zimmer in ein weiteres transportieren. Dies ist weder leicht zu tun, noch zu lesen.

Ecker zeigt hierbei einen Blick fürs Detail, der den Leser mit Leichtigkeit in ein madenübersätes und durch allgemeine Widerwärtigkeit ausgezeichnetes Hotelzimmer versetzt. Horrorfans kommen auf ihre Kosten, doch Zartbesaitete und Leser mit einer Vorliebe für Naschi zur Lektüre müssen Obacht walten lassen. Auch nachdem die Leichen umgeschichtet sind und Phineas von dieser Aufgabe vollkommen zermürbt ist, kommt die Gewalt nicht zu kurz. Wie sich herausstellt, ist Phineas zwar ein Prinz, doch bei weitem kein Prince Charming. Er säuft und raucht exzessiv und seinen Mitmenschen gegenüber ist er im besten Falle gleichgültig. Leichen säumen seinen Weg und besonders Frauen dürfen sich in seiner Gegenwart nicht sicher fühlen.

Ein unliebenswerter Protagonist ist ein genauso schwieriges wie mutiges Unterfangen. Hier gelingt es. Bis zum Ende stellt sich die Frage nach Phineas‘ Identität und der Leser wird Seite für Seite aufs Neue überrascht. Ist er ein Großstadtkrimineller mit Alkohol- und Drogenproblemen, ein Prinz und Wesen aus längst vergangener Zeit oder doch ein gewöhnlicher wahnsinniger Germanist? Ecker liefert viele Fragen und Antworten, doch passen diese oft nicht zusammen. Reizvoll sind sie aber allemal und wie bei anderen Werken Eckers ist die undurchsichtige Handlung gleichzeitig Rahmen für Themen, die uns alle beschäftigen. Es geht um Macht und Machtlosigkeit, besonders über das eigene Leben. Es geht um Verlust und Suche nach Heimat sowie grundlegende Fragen der Ethik und Moral. Es geht um die Sinnlosigkeit der Existenz, wie man ihr Sinn geben kann und vielleicht auch darum, dass zu viel Nachdenken sinnentleerend sein kann.

Phineas wird von geheimnisvollen Männern aus seiner Vergangenheit gelenkt, die vielleicht noch gewissenloser sind als er. Von New York aus reist er rasant durch den Raum, den öffentlichen Personennahverkehr als eine Art Tardis des kleinen Mannes zur Hilfe nehmend. Seine Ziele sind verschiedene Städte in Europa, unter anderem Kiel. Hier wurde mir (seltsamerweise noch mehr als bei den Maden) angst und bange, doch stellten sich die Zweifel als unbegründet heraus. Ecker färbt die Geschichte mit Lokalkolorit ein und sogar der ansonsten schwer zu beeindruckende Phineas gibt sich begeistert. Doch driften die Ausführungen nie in das romantisch-verklärte eines Heimatkrimis ab. Dem Buch ein passendes Genre zuzuordnen fällt allerdings schwer. Der Bahnhof von Plön enthält Elemente von Krimi, Detektivroman und Film Noir, ist eine Anleitung zur Selbstfindung und philosophische Abhandlung, scheint in einer Zeile ein tragisches Märchen und in der nächsten experimentelle Science-Fiction. Fragen, die noch mehr Fragen aufwerfen, einen Grundkurs in Philosophie und fast 400 Seiten wahnsinnige, aber doch eher wahnsinnig interessante Lektüre bietet Der Bahnhof von Plön.

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