Was ist das eigentlich, ein „Nachtstück“? Ein viel zu spät eingenommenes Frühstück? Wohl kaum. Ein Miststück, das nachtaktiv ist? Eher nicht. Oder aber ein „Schauspiel zur Nacht“? Ja, das trifft den Kern von Jimmy Beaulieus („Ein pornographischer Sommer“) neuem Comic dann schon ziemlich präzise, vor allem da der Kanadier sich großzügig an den Genreversatzstücken des Film Noir bedient.

So ziehen sich bei Beaulieu zwei Frauen nach einem Raubüberfall mit der Beute in ein Hotelzimmer zurück, um dort auf ihren Komplizen zu warten. Der hat sich allerdings in eine dritte Dame verschossen und gefährdet liebesblind das Leben aller Beteiligten. In einem Krimi wüsste man spätestens jetzt, wie es weitergehen würde: Auf erwecktes Misstrauen folgen gegenseitige Schuldzuweisungen und schließlich die gewaltsame Auslöschung der einzelnen Parteien. Doch zum Glück ist „Nachtstück“ kein Krimi.

Nachtstück
Nachtstück

Denn statt Paranoia zu schieben, beginnen die Diebinnen einander Geschichten zu erzählen. Geschichten die zumeist von starken Frauen und passiven Männern handeln und auf diese Weise ihre eigenen Umstände kommentieren. Und die nicht selten eine sexuelle Komponente enthalten, welche die Beiden zu dem Schluss kommen lässt, dass die Gurgel nicht der einzige Körperteil ist, an den man einander gehen kann.

Erotische Comics sehen sich natürlich immer pauschal dem Vorwurf ausgesetzt, lediglich als Illustration von Männerphantasien zu fungieren – weil es in der Regel einfach stimmt. Bei Beaulieu ist das aber anders: Seine Zeichnungen sind eher schlicht (bisweilen neigen sie gar zum Naiven), aber stets ästhetisch. Die Erotik bleibt subtil, beinahe zurückhaltend, die Figuren in einem realistischen Rahmen attraktiv und dabei von einer Natürlichkeit, deren Existenz sowohl der amerikanische Mainstreamcomic als auch Heidi Klum beharrlich leugnen.

Den Akt selbst präsentiert „Nachtstück“ im narrativen Sinne, als Handlung die nicht zum Selbstzweck verkommt, sondern viel über die Figuren verrät. Folglich könnte man hier von einer erotischen Erzählung im bestmöglichen Sinne sprechen, täte Beaulieu damit aber Unrecht. Denn erst im Fabulieren und Erzeugen von Stimmungen zeigt der Zeichner das ganze Ausmaß seiner Kunst.

Fast zwangsläufig gerät er dann auch ins Straucheln, wenn die Geschichte konkret wird. Die Schilderung des Überfalls selbst wirkt beinahe platt und besonders das deplatzierte Finale enttäuscht. Doch „Nachtstück“ weiß um diese Schwächen und lässt der eigentlichen Erzählung noch die fabelhafte Kurzgeschichte „Protestploitation“ folgen: Man befindet sich nun einmal in einem Kosmos der permanent neue Anekdoten produziert. Wir sehen zu, wie er mit ihnen jongliert und reiben uns verwundert die Augen, wenn wir feststellen, dass sie schließlich gar nicht mehr zu Boden fallen. Ein verdammt talentierter Taschenspieler, dieser Jimmy Beaulieu.

Jimmy Beaulieu: Nachtstück. Schreiber&Leser. 111 Seiten (farbig). 14,95 Euro.

Comics des Monats

Verblendung
Verblendung

Verblendung
Titel: Verblendung Bd. 1
Autor: Sylvain Runberg (Skript), José Homs (Zeichnungen).
Verlag: Splitter. 64 Seiten (farbig), Hardcover. 14,80 Euro.

Die Auswertung von Stieg Larssons „Millennium“-Trilogie in Kurzform: Schwedische Verfilmung. Amerikanisches Remake von schwedischer Verfilmung. Dessen Regisseur David Fincher behauptet es ist eine Neuverfilmung des Romans. Warum beide Filme dann identisch aussehen, kann er aber nicht erklären. Amerikanische Comicversion („The Girl with the Dragon Tattoo“, erschienen bei Panini). Ziemlich furchtbar. Frankobelgische Comicversion. Stopp. Einmal mehr also suchen Hackerin Lisbeth Salander und Journalist Mikael Blomqvist nach einem bereits vor Jahrzehnten verschwundenen Mädchen. Doch wo Buch und Film Überlänge hatten komprimiert der Comic dies auf zwei mal 64 Seiten, was zumindest in der vorliegenden ersten Hälfte gut gelingt. Wenig überraschend ist das Ganze natürlich dennoch, auch wenn eigene Schwerpunkte gesetzt werden. Die Wahl des derzeit populären semi-realistischen Stils mit karikaturistischen Anklängen ist dabei eher suboptimal, weil er die Abgründigkeit der Vorlage mindert. Die Grundfrage bleibt allerdings, warum diese Geschichte noch einmal erzählt werden muss und warum man sie dann zu allem Überfluss noch in zwei Bänden veröffentlicht. Der Anreiz, auf den zweiten zu warten dürfte denkbar gering sein – schließlich weiß ja mittlerweile jeder den es interessiert, wie es ausgeht. Wäre der Comic vor fünf Jahren erschienen, das Fazit wäre wohl deutlich positiver ausgefallen – 2013 trägt er leider Eulen nach Athen. (5)

Eine Nacht in Rom
Eine Nacht in Rom

Eine Nacht in Rom
Titel: Eine Nacht in Rom – Erstes Buch
Autor: Jim
Verlag: Splitter. 120 Seiten (farbig), Hardcover. 19,80 Euro.

Was Woody Allen seine Neurosen sind, ist für den Franzosen Jim die Midlife-Crisis: Das Hauptthema seines Schaffens und die Grundausstattungen seiner Protagonisten. Zusammen mit „Sonnenfinsternis“ und „Die Einladung“ bildet „Eine Nacht in Rom“ eine Trilogie im Schaffen Jims und wärmt dabei so einiges seiner Vorgänger wieder auf. Raphael steht kurz vor dem 40. Geburtstag als ihn ein Videoband erreicht, das ihn vor zwanzig Jahren mit seiner damaligen Freundin Marie zeigt und auf dem sich die Beiden versprechen, ihren Vierzigsten zusammen in Rom zu verbringen. Raphael beginnt zu zweifeln: Soll er lieber dem Glück alter Tage hinterherjagen oder die Vergangenheit ruhen lassen? Dem Leser ist das allerdings reichlich egal, ist Raphael doch eine denkbar uninteressante Figur, für deren Schicksal man sich nun wirklich nicht interessieren kann. Aber da ist ja noch Marie, unter deren anmutiger Oberfläche sich existentielle Konflikte abzeichnen, die über die Wohlstandskrisen ihres männlichen Gegenparts hinausgehen. Zudem ringt ihre Darstellung Jim beständig zeichnerische Glanztaten ab, die einerseits schön anzusehen sind, dabei aber auch eine inhaltliche Komponente haben: Indem die strahlende Marie kaum älter als 25 wirkt, wird sie zur Phantasie einer alterslosen Jugendliebe. Dem Mann der nach dem sehnt, was er verloren hat, bleibt da nur die Rolle des kultivierten Masochisten. (6)

Billy Bat
Billy Bat

Billy Bat
Titel: Billy Bat Bd. 3
Autor: Naoki Urasawa
Verlag: Carlsen Manga. 222 Seiten (s/w), Taschenbuch. 8,95 Euro.

Wahre künstlerische Konsequenz zeigt sich ja erst im Bruch mit dem selbstauferlegtem Konzept. Daher nun „Billy Bat“, ein Titel in dem auch nach gut 600 Seiten noch keine erwähnenswerte Frauenfigur aufgetaucht ist. Dafür aber so ziemlich jede andere: Jesus, Samurais, Astronauten – alles da. Die Handlung um zwei mysteriöse Fledermausgestalten, die seit 2000 Jahren die Geschicke der Menschheit zu lenken scheinen, springt nämlich munter durch die Zeiten, ohne bisher zu offenbaren, wohin die Reise denn eigentlich gehen soll. Autor Naoki Urasawa ist schließlich bekannt dafür, seine Manga-Epen über hunderte, ach was, tausende von Seiten zu entwickeln. Und das natürlich nicht mit einer stringenten Erzählung, sondern mit immer neuen Handlungsbögen, die sich beharrlich weigern, ihre eigentliche Bedeutung preiszugeben. Das kann sehr frustrierend sein, ist aber auch ein einziges großes Versprechen, vielleicht die epischste Story aller Zeiten zu verfolgen, wenn man bis zum Ende ausharrt. Wer abknickt hat verloren, wer in der Mitte einzusteigen gedenkt sowieso. Dabei kann jede Bewertung, solange das Werk nicht abgeschlossen ist, natürlich nur ein vorsichtiges Stochern in Dunkel der Handlung darstellen und unter Vorbehalt geschehen. Ein Versuch: (7)

Nick Fury
Nick Fury

Fury – Kriegsgeschichten
Titel: Fury Max – Kriegsgeschichten
Autor: Garth Ennis (Skript), Goran Parlov (Zeichnungen)
Verlag: Panini Comics. 145 Seiten (farbig), Softcover. 16,95 Euro.

Und jetzt noch mal so richtig Testosteron: Wer den Namen Nick Fury hört denkt in den Regel zunächst an Samuel L. Jackson, der den Spezialagenten in den neueren Marvel-Filmen spielt. Und wer den Trash schätzt, hat sofort David Hasselhoff vor Augen, der Fury 1998 in dem Fernsehfilm „Einsatz in Berlin“ verkörperte. Kenner und Wikipedia wissen allerdings, dass die Figur bereits seit 1965 existiert – und schon damals war sie eher alter Haudegen denn junger Wilder. Das hat seinen Grund, denn in Furys Schädel steckt eine Kugel, die seine Alterung verlangsamt. Wer hingegen den Namen Garth Ennis hört, denkt an einen Mann, der nur aus Rückgrat und Eiern besteht. Ziemlich großen Eiern, noch dazu. Ennis ist einer der furchtlosesten, radikalsten Comicautoren und hatte auch für Fury eine ziemlich gute Idee: Er schickt ihn durch jeden militärischen Konflikt, den Amerika seit dem zweiten Weltkrieg durchexerziert hat und testet mal, wie viel der Mann ertragen kann. Der vorliegende Band versammelte die ersten sechs Hefte nach diesem Konzept, los geht es 1954 in Hanoi, die zweite Hälfte spielt sieben Jahre später in Kuba. Das Ergebnis ist visuell gekonnt umgesetzt und mit tollen Titelbildern versehen, verzichtet aber darauf, gegen Politik und Gesellschaft zu ätzen, wie es von Ennis allgemein und bei diesem Thema im Besonderen zu erwarten gewesen wäre. Dafür zwei Strafrunden um die Schweinebucht. (6)

Wiederveröffentlichung des Monats

Superman
Superman

Der Tag an dem Superman starb
Titel: Der Tod von Superman 1: Der Tag an dem Superman starb
Autor: Dan Jurgens, Louis Simonson, Roger Stern, Jerry Ordway (Skript), Dan Jurgens, Tom
Grummett, Jon Bogdanove, Jackson Guice (Zeichnungen).
Verlag: Panini. 180 Seiten (farbig), Softcover. 16,95 Euro.

So war das Anfang der Neunziger: Da stieg einfach ein klobiges Monster aus der Erde, zog eine Schneise der Verwüstung durch das Land und lieferte sich schließlich einen Kampf mit Superman, in dem beide ihr Leben ließen. Was rückblickend als ziemlich schlichte Konstruktion daherkommt, erschütterte 1993 als es noch nicht Gang und Gäbe war, Superhelden zu töten und wiederauferstehen zu lassen ganz Amerika und machte die legendäre Ausgabe 75 von „Superman“ zum bestverkauften Comicheft aller Zeiten. Den Tod des „Manns von Morgen“ kann man jetzt endlich wieder preiswert nachlesen, frühere Ausgaben waren nur noch antiquarisch zu Phantasiepreisen erhältlich. Visuell ist das, sieht man von besagter Ausgabe 75, die Dan Jurgens ausschließlich in eindrucksvollen ganzseitigen Bildkompositionen konstruiert hat, lediglich damaliger Standard. Leider hat man auch darauf verzichtet, den Klassiker durch die Auffrischung von Tusche und Kolorierung so zu entstauben, wie er es verdient hätte. Dennoch: Wenn der Stählerne schließlich seinen letzten Atemzug tut, bleibt auch heute noch kein Auge trocken. In drei weiteren Bänden wird jetzt erst einmal ausgiebig getrauert, bevor die unvermeidliche Wiederauferstehung folgt. Denn was Jesus kann, konnte Superman schon lange. (8)

Sekundärliteratur

Comic Report 2013
Comic Report 2013

Comic Report 2013
Titel: Comic Report 2013: Berichte + Analysen
Autor: Volker Hamann, Matthias Hofmann (Hrsg.)
Verlag: Edition Alfons. 176 Seiten (farbig), 14,95 Euro.

Obwohl er erst seit 2011 erscheint, hat sich der Comicreport bereits einen festen Platz in der Sekundärliteratur erkämpft und stellt längst die gelungene Alternative zum ähnlich gelagerten, aber stets mit krassen Fehlern aufwartenden „Comic-Jahrbuch“ dar. Dort wurden beispielsweise David Finch (Zeichner von „Batman – The Dark Knight“) und David Fincher (Regisseur von „Fight Club“) kurzerhand zur gleichen Person erklärt. Eine solche Blöße gibt sich der Report natürlich nicht. Obwohl: Für eine nach subjektiven Kriterien ausgeführte Bibliografie, wie sie hier über Moebius abgedruckt ist, wird man an der Uni verprügelt, also bitte nicht nachmachen Kinder. Davon abgesehen ist die thematisch Auswahl und die Aufmachung sehr gelungen, einzig beim Stil hapert es vereinzelt in den Beiträgen noch, die dann weniger nach sachlicher Auseinandersetzung als vielmehr nach ungezwungener Plauderei klingen. Trotzdem: Die dritte Ausgabe des Reports ist dies bisher gelungenste, auch wenn man im Gegensatz zum Vorjahr nicht mit einem Wahnsinnbeitrag wie „25 Jahre Wendy – Was vom Pferde übrig blieb“ aufwarten kann. (7)

Short Cuts and Little Ladies

Liar Game Bd. 1: Die naive Nao wird unfreiwillig zur Mitspielerin in einem obskuren Wettkampf, deren Teilnehmer sich um die Wette bestehlen. Um ihre Haut zu retten, ist sie auf die Hilfe des berühmten Betrügers Shinichi angewiesen. Mit Logik und Realismus hat es die Serie nicht so, psychologische Schärfe und gut getimte Wendungen sorgen aber dafür, dass man bis Band 2 dranbleibt. (Egmont Manga, 220 Seiten, 7,50 Euro)

Shi-Ki Bd.1: Die ländliche Idylle, in der die Schulmädchen Megumi und Natsuno Leben wird durch eine Reihe mysteriöser Todesfälle empfindlich gestört. Besteht eine Verbindung zu den jüngst zugezogenen, mysteriösen Nachbarn? Optisch wie inhaltlich heterogener Horrortrip, der gerade aufgrund dieser Varianz fasziniert. Auf elf Bände angelegt. (Egmont Manga, 201 Seiten, 7,50 Euro)

Der Krieg der Sambres – Werner & Charlotte: Schon seit 1985 arbeitet der französische Autor Yslaire an seiner weitverzweigten historischen Familienchronik „Krieg der Sambres“. Mit dem, an „Gefährliche Liebschaften“ erinnernden, Band „Werner & Charlotte“ (Zeichnungen von Boidin) präsentiert er sich optisch bestechend und narrativ feinsinnig. (Carlsen Comics, 46 Seiten, 16,90 Euro)

Autor*in

Janwillem promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft. Er schreibt seit 2010 regelmäßig für den Albrecht über Comics und Musik, letzteres mit dem Schwerpunkt Festivalkultur.

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