Irland: Das Inselvolk hat noch nicht einmal fünf Millionen Einwohner und trotzdem weitaus mehr Vorurteile als manch anderes Land. Während meiner neun Monate als Aupair bekam ich einen Einblick in den Alltag der ländlichen, irischen Bevölkerung.

Eine Busfahrt, die ist schön

Eine meiner ersten Feststellungen: Iren sind aus Prinzip unpünktlich. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass die Schule erst um neun oder halb zehn, je nach Jahrgangsstufe, anfängt. Morgens kann sich deshalb Zeit gelassen werden, um zur Bushaltestelle zu gehen. Apropos Bushaltestellen: Diese existieren, zumindest in ländlichen Gebieten, quasi gar nicht. Meine Gastkinder sind zum Beispiel immer an einer Kreuzung mitten im Nirgendwo eingestiegen. Auf die Frage, woher Nichtwissende herausfinden sollten, wo der Bus hält, kam nur die trockene Antwort: „Gar nicht. Du musst einfach jemanden kennen, der es weiß“.

Einmal im Bus eingestiegen, steht einem mit kostenlosem WLAN ein wahrer Luxus bevor. Wenn mir die Busfahrt aber doch mal zu riskant wurde und unbekannte Territorien durchfahren wurden, waren die Busfahrer*innen die Rettung. Sie lassen einen nach nettem Nachfragen praktisch überall aussteigen, wenn es auf dem Weg liegt. Besonders rührend war es immer, wenn ältere Menschen nicht mehr gut auf den Beinen waren und deswegen vor ihrer Haustür rausgelassen wurden. Als Dankeschön dafür gab es stets ein „Bye…bye, bye“, das dann minutenlang mantraähnlich von beiden Seiten erwidert wurde.

Ein Sonntag, der ist wichtig

Eine weitere Situation, die wahrscheinlich lebenslang in Erinnerung bleibt, erlebte ich bei der Autofahrt, als meine Gastmutter ihre Kinder völlig aus dem Kontext gerissen um Ruhe bat, um noch einmal kurz alle Gebete für die Kirche am nächsten Tag aufzusagen und zu üben. Ob wirklich religiös oder nicht, die Iren gehen sonntags zur Kirche. Nicht selten kommt es vor, dass Familien sich aufteilen müssen, weil sie sonst keinen Platz mehr bekommen. Eine Situation, die bei uns wahrscheinlich seltener vorkommt. Zur Kirche gehen heißt aber noch viel mehr: Die Iren treffen sich zu einem kurzen Schnack und oft wird sich danach zum Kaffee verabredet. Viele Iren leben nämlich auf dem Land und haben wenig Nachbarn. Der Sonntag will also auch dazu genutzt werden, Kontakte zu pflegen und sich gegenseitig auf den neusten Stand zu bringen.

Musikalische Unterhaltung, die ist Pflicht

Das irische Volk gehört wohl zu einem der musikalischsten weltweit. Von Irish Dancing über Instrumente wie Keyboard, Akkordeon oder Flöte ist alles dabei. Wenn zuhause auf der Tin Whistle, einer sehr kleinen und hohen Flöte, geübt wurde, war das immer Fluch und Segen zugleich. Die traditionell irischen Lieder, die damit gespielt werden, klingen zwar sehr schön, aber sobald sich ein falscher Ton dazwischen mogelt, quietscht es unangenehm in den Ohren. Bereits mehrere Wochen vor dem St. Patricks Day am 17. März wurde täglich für den großen Auftritt bei der Parade geprobt. Unsere Familie hat sich diese in Cork, immerhin der zweitgrößten Stadt Irlands, angeguckt und ehrlich gesagt war der Umzug doch ein wenig enttäuschend, denn so groß wie angekündigt war der Straßenzug im Endeffekt nicht.

Viele der Vorurteile haben tatsächlich einen wahren Kern. Trotz allem ist Irland längst nicht so konservativ wie oft behauptet, was sich übrigens auch in der Sprache zeigt. Irisch sprechen können nämlich nur die Wenigsten. Zwar lernen die Kinder Gaeilge (Irisch) in der Schule, doch bleibt es für sie oft eine Fremdsprache. Lediglich in Westirland gibt es einige Gebiete, in denen sich auch heutzutage noch hauptsächlich auf Irisch unterhalten wird.

Autor*in

Kristin studiert Soziologie und Politikwissenschaft. Sie ist seit Ende 2018 beim ALBRECHT und war im Jahr 2020 Ressortleiterin der "Hochschule". Außerdem unterstützt sie das Lektoratsteam.

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