Das Buch, das ihr in diesem Artikel kennenlernt, ist wahrscheinlich anders als die Bücher, die ihr bis jetzt gelesen habt. Es ist ein Buch, an dessen Anfang erklärt wird, warum es eigentlich unmöglich ist, dass es überhaupt existiert. Es ist ein Buch, das einem auf eine bittersüße Weise vor Augen führt, warum es sich lohnt, zu leben. Es ist ein Buch, das Leben rettet und auch dazu beigetragen hat, dass ich diesen Artikel jetzt schreiben kann. 

Triggerwarnung: Der folgende Beitrag enthält Darstellungen von Depressionen und Suizidgedanken 

Der Autor und seine Dämonen 

Matt Haigs Leben ist bisher alles andere als langweilig gewesen. Als er 24 Jahre alt ist, wird er von einer dunklen Welle voller Hoffnungslosigkeit und Angst getroffen – er wird depressiv und entwickelt eine Angststörung, von einem Tag auf den anderen. Da ich Ähnliches erlebt habe, war es nur logisch für mich, dieses Buch zu lesen.  

Haig lebt zu der Zeit, als er erkrankt, in Spanien, wo er seit sechs Jahren studiert. Kurz bevor er zurück nach London ziehen soll, erlebt er seine erste Panikattacke. Danach verlässt er für drei Tage nicht mehr das Bett, schläft allerdings auch nicht. Er erzählt von dieser Zeit: „Ich kann mich daran erinnern, geschockt zu sein, dass ich überhaupt noch lebe. Ich weiß, das klingt melodramatisch, aber Depressionen und Panik geben einem nur melodramatische Gedanken zum Spielen.“ Haig wollte nicht mehr leben, vor dem Sterben hatte er aber zu viel Angst. Außerdem „können nur Menschen sterben, die vorher überhaupt gelebt haben.“ 

Die schmerzhafte Reise 

Von dem Moment seiner ersten Panikattacke an kämpfte er viele Jahre gegen sein Inneres an und war mehr als einmal kurz davor, aufzugeben – deshalb ist die Existenz des Buches auch so unmöglich für ihn. Er nimmt uns in dem Buch mit auf seine Reise und erzählt, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, wie seine inneren Dämonen sein Leben zerstört haben und wie er es letztendlich doch geschafft hat, sie zu besiegen. Doch die schmerzhaften Erinnerungen, die ich teilweise nur mit Tränen in den Augen lesen konnte, werden immer wieder abgelöst von all den Dingen, die Haig in seinem Kampf gegen sich selbst gelernt hat. Es geht um die Dinge, die das Leben lebenswert machen: Liebe, Familie, Freunde oder der Vogel, der jeden Morgen vor dem Fenster sein Lied singt. Die Art, wie Haig dabei mit Worten umgehen kann und wie er mit ihnen Wasserfälle von Gefühlen erzeugt, ist schwer zu beschreiben. Er kann sich auf eine Weise ausdrücken, von der viele Autor:innen nur träumen können. Um wirklich zu verstehen, was ich damit meine, müsst ihr das Buch selber lesen.  

Das Gefühl dunkler Wolken am Himmel 

Die Erzählungen des Autors über seine Erlebnisse werden immer wieder unterbrochen von kurzen Kapiteln, in denen er versucht, zu erklären, wie sich Depressionen und Angststörungen anfühlen. Diese kurzen Stellen im Buch sind aber auch die wichtigsten, denn mentale Krankheiten finden in der Gesellschaft unter anderem deshalb so wenig Gehör, weil die Menschen nicht verstehen, wie schlimm sich sowas überhaupt anfühlt. Es ist aus eigener Erfahrung unglaublich schwer, zu beschreiben, was Depressionen mit einem machen. Haig schafft das aber und zeichnet ein Bild vor den Augen der Leser:innen, das erschreckend und gleichzeitig lehrreich ist. An einer Stelle schreibt er beispielsweise: „Am schlimmsten Punkt wünscht du dir verzweifelt, du hättest irgendein anderes Problem, irgendeinen physischen Schmerz, denn der Geist ist unendlich und die Qualen können genau so unendlich sein, wenn sie passieren.“  

Es ist eine der vielen Stellen im Buch, die ich mehrmals gelesen habe, weil ich so fasziniert davon war, wie er es mit nur Worten schafft, dass ich diese Verzweiflung nachfühlen kann. Ich könnte noch viel mehr solcher Beispiele bringen, aber das würde den Rahmen des Artikels deutlich sprengen. Deshalb hier nur noch meine absolute Lieblingspassage, die mich bis in mein tiefstes Inneres berührt hat:  

„Depressionen sind kleiner als du. Sie sind immer kleiner als du, auch, wenn sie sich gewaltig anfühlen. Sie arbeiten in dir, du arbeitest nicht in ihnen. Sie sind vielleicht eine dunkle Wolke, die über den Himmel schwebt, aber – wenn das die Metapher ist – du bist der Himmel. Du warst vor ihnen da. Und die Wolke kann nicht ohne den Himmel existieren, aber der Himmel kann ohne die Wolke existieren.“ 

Warum es sich lohnt, zu überleben 

Das Buch ist durchzogen von Kapiteln, die nur aus Listen bestehen. Das macht das Leseerlebnis noch spannender und Dinge, die nur in Stichpunkten geschrieben sind, treffen die Leser:innen meistens noch direkter. So gibt es zum Beispiel eine Liste mit Metaphern, wie sich Depressionen anfühlen oder eine mit bekannten Persönlichkeiten, die unter mentalen Krankheiten leiden. Natürlich wird das Buch seinem Titel gerecht und gibt uns eine Liste an die Hand mit Gründen, zu überleben. Diese Auflistung ist allerdings nicht vom Autor selbst verfasst, sondern von seinen Fans. Er hat auf Twitter Menschen mit suizidaler Vergangenheit gefragt, warum es sich lohnt, zu überleben und einige der Antworten findet man in dem Buch wieder. Hier mein absoluter Favorit, der mich zum zigsten Mal beim Lesen zum Weinen gebracht hat: „Das Loch, das du zurücklassen würdest, ist größer als der Schmerz, den du fühlst.“ 

 Wer das Buch lesen sollte 

Ich habe lange darüber nachgedacht, welchen Personengruppen ich das Buch empfehlen würde. Irgendwann bin ich dann zu dem Schluss gekommen: Jede:r sollte dieses Buch lesen. Jede:r kann etwas aus dem Buch mitnehmen. Matt Haig lehrt mit seinem Buch so unglaublich viel. Ich habe Dinge über mich gelernt, über mein tiefstes Inneres, über meine Mitmenschen, über das Gehirn und wie Gefühle entstehen. Das Wichtigste, was ich aber gelernt habe: Die schönen Momente im Leben wiegen immer schwerer als die schlimmen. Natürlich löst das Buch nicht auf magische Weise alle Probleme, die wir Tag für Tag mit uns rumschleppen. Es zeigt einem allerdings, wer die einzige Person ist, die mit dem Lösen der Probleme anfangen kann: Du selbst. Und wenn dabei mal dunkle Wolken am Himmel stehen, dann werden auch die vorüberziehen.  

*alle Zitate wurden aus dem Englischen übersetzt 

Autor*in
stellvertretende Chefredakteurin

Mira ist 22 Jahre alt und studiert seit dem WiSe 2020/21 Soziologie und Deutsch an der CAU. Sie ist seit November 2020 Teil der ALBRECHT-Redaktion und leitete ab Februar 2021 für ein Jahr das Ressort Hochschule. Ab Februar 2022 war sie für ein Jahr die stellvertretende Chefredakteurin.

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