Was bedeutet es, zu leben? Meist denken wir nicht viel darüber nach. Wir spazieren zur Arbeit, erledigen Pflichten, erleben gute und schlechte Tage – der Trubel des Alltags lässt uns schnell unsere eigene Endlichkeit vergessen. Doch es gibt Einschnitte im Leben jedes Menschen, die uns auf unsere Sterblichkeit hinweisen. Ein besonders gravierender Einschnitt heißt ‚Krebs‘.

In Deutschland erkranken jährlich rund eine halbe Million Menschen an der Krankheit. Krebs ist damit auf Platz zwei der häufigsten Leiden in Deutschland. Es gibt hunderte verschiedene Arten und Formen – theoretisch kann jedes Organ unseres Körpers von den bösartigen Tumoren befallen werden. Diese Neubildungen entstehen, wenn bei der Zellteilung Fehler unterlaufen und der Körper diese Zellschäden nicht mehr eigenständig identifizieren und zerstören kann. In diesem Falle können sich die sogenannten Krebszellen unkontrolliert im Gewebe ausbreiten und vervielfachen. Eine Ansiedelung in weiteren Organen führt zu Metastasen, die das Endstadium einer Krebserkrankung darstellen und nur schwer zu bekämpfen sind. Nur, wenn Ärzte die Warnzeichen rechtzeitig entdecken, sind die Heilungschancen hoch. Die medizinische Forschung entwickelt stetig neue Behandlungsmethoden und -therapien, sodass die Hoffnung auf das Überleben immer weiter steigt. Jedoch ist bis heute noch nicht hundertprozentig klar, warum Krebs überhaupt entsteht und noch immer endet die Erkrankung für sehr viele Betroffene mit dem Tod. Jeder ist mit der Krankheit schon einmal in Berührung gekommen, jeder hat individuelle Geschichten und Schicksale im Kopf. Und jeder weiß, was diese Krankheit mit den meisten Erkrankten macht: Sie werden zu Kriegern – sie treten in einen Kampf um Leben und Tod. Vielen Betroffenen und Angehörigen wird in solchen Situationen wieder bewusst, was es bedeutet, am Leben zu sein, und wie sehr doch die verbleibende Lebenszeit genutzt werden muss.

Alte Zöpfe geben neue Kraft

Eine unter den Kämpferinnen ist Angelika Körfer aus Herzogenrath in Nordrhein-Westfalen. Bei der alleinerziehenden Mutter wurde vor drei Jahren Brustkrebs diagnostiziert. Die Krankheit hat sie körperlich sehr verändert. Neben den aggressiven Behandlungstherapien waren Wassereinlagerungen, Schwellungen im Gesicht und Haarverlust nur ein kleiner Bestandteil der Krankheit. Denn all diese Veränderungen betreffen nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche. Sie beobachtete während ihrer eigenen Arztbesuche viele Menschen, die sich besonders für ihren Haarverlust – eine Folge der Chemotherapie – schämten. Viele entzogen sich aus Scham der Öffentlichkeit und sogar dem eigenen sozialen Umfeld. „Das Problem“, so sagt Angelika Körfer, „liegt darin, dass vielen Patienten während der langen Behandlungsdauer das Geld für qualitativ hochwertiges Zweithaar fehlt“. Die Krankenkasse übernimmt für eine Perücke nur rund 300 Euro. Modelle in diesem Preisrahmen sorgen häufig für Juckreiz auf der Kopfhaut, laden sich statisch auf, oder schimmern künstlich im Sonnenlicht. Die Preise einer guten Perücke liegen mit 600 bis 2 000 Euro weit über der Kostenübernahme der Krankenkasse. „Nach diesen Erlebnissen dachte ich mir, dass so etwas einfach nicht sein kann.“ Sie begann mit einem kleinen Aufruf auf facebook, in dem sie ihre Freunde und Bekannten ermutigte, ihre Zöpfe abzuschneiden und ihr zu schicken. Die Resonanz war so groß, dass sie Anfang des Jahres 2014, trotz ihrer immer noch anhaltenden Krankheit, den gemeinnützigen Verein Haarschnitt mit Herz e. V. gründete. Alle eingehenden Zöpfe werden seither gesammelt und bei kooperierenden Perückenherstellern in Zahlung gegeben. Mithilfe dieser Gutschriften übernimmt der Verein für Betroffene, die sich eine Perücke nicht leisten können, die nötigen Zuzahlungen. Der Verein betreut nicht ausschließlich Krebspatienten, sondern auch Betroffene der Krankheit Alopecia areata, dem kreisrunden Haarausfall. Die Haare werden bei einem Perückenmacher gereinigt und chemisch aufbereitet, sodass es keine Rolle spielt, ob die gespendeten Haare gefärbt, getönt oder mit Dauerwelle behandelt wurden. Auch alte Zöpfe, die schon lange eingestaubt in Schubladen lagern, können noch weiterverarbeitet werden. Der älteste Zopf, der bei Angelika Körfer eingegangen ist, war über 100 Jahre alt. Circa fünf bis acht Zopfspenden werden für eine neue Perücke benötigt.

Auch ich habe im vergangenen Jahr einen 25 Zentimeter langen Zopf an diesen Verein gespendet. Ich hatte schon lange Lust auf eine Typveränderung und so kam das Projekt genau richtig. Die Friseurin traute sich zuerst gar nicht, meinen langen Zopf abzuschneiden. Am Ende waren wir aber beide von dem Ergebnis begeistert. Seither spare ich morgens sehr viel Zeit im Bad und bei starkem Wind sind endlich keine Haarsträhnen mehr im Gesicht. Gleichzeitig kann ein kurzer Schnitt bei Frauen sehr modisch und erwachsen wirken. Kurzum: Ich fühle mich sehr wohl mit der neuen Frisur und kann mir lange Haare gar nicht mehr vorstellen. Den Zopf habe ich in Alufolie gewickelt, in einen Briefumschlag gesteckt und nach Herzogenrath versandt. Ich brauche die Haare nicht mehr, jemand anderes dafür umso mehr.

Angelika Körfers Verein ist jetzt zweieinhalb Jahre alt und sie bekommt mittlerweile Zopfspenden aus ganz Europa. In Kooperation mit dem Verein bieten einige Friseursalons in NordrheinWestfalen bei einer Zopfspende einen kostengünstigeren Neuschnitt an. Auch Friseure aus unserer Region können sich bei dem gemeinnützigen Verein melden und an der Aktion teilnehmen. Die Vereinsgründerin ist immer noch in ärztlicher Behandlung – eine starke Frau, die mit einer ungewöhnlichen Idee vielen Menschen hilft.

Möchtest Du spenden? Dann sende Deinen Zopf mit einer Mindesthaarlänge von 25 Zentimetern an folgende Adresse: Haarschnitt mit Herz e. V., Postfach 3460, 52121 Herzogenrath.

 

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