Wenn ein Junge im antiken Sparta sein fünfzehntes Lebensjahr erreichte, so entsandten ihn die Stadtältesten in die Wildnis, auf dass er sich dort gegen die Wölfe behauptete und als Mann in den Schoß seiner Gemeinde zurückkehrte. In Norddeutschland braucht man keine Wölfe, wir haben Wacken. Das größte Heavy-Metal-Festival der Welt zaubert jedes Jahr am ersten Augustwochende eine archaische Szenarie auf die örtlichen Kuhweiden und läutet einen vier Tage währenden Kampf gegen Witterung, Schlafmangel und Delirium Tremens ein. Ein paar Nächte mit den Wölfen Spartas wirken im Direktvergleich wie eine Einladung in die Präsidentensuite des Four Seasons.

Gerade deshalb ist der Besuch des Festivals für unzählige Heranwachsende zu einem Initiationsritus in doppelter Hinsicht geworden, gleichermaßen ein Beerdigen der eigenen Kindheit, als auch die Verlockung der Aufnahme in die eingeschworene Metal-Gemeinde. Diese letzte Parallelgesellschaft (um einmal Thilo Sarrazin zu paraphrasieren), die noch glaubhaft Beständigkeit in unser sich permanent wandelnden Gegenwart verspricht. Das Zeltcamp von der Größe einer Kleinstadt, das im Laufe eines Sonntags verschwindet, nur um im nächsten Jahr in gleicher Gestalt wiederzuerblühen als sei es niemals fortgewesen, erscheint dafür als treffendes Symbol.

Die Adoleszenz als Dauerzustand

Mehr als Schlamm und laute Musik: Wacken. Foto: jd

Auch der gestandene Metaler pilgert gerne nach Wacken, aus Beweggründen die sich gar nicht so sehr von denen der Kids unterscheiden. Ihn lockt das Versprechen, seine Jugendjahre wieder aufleben lassen und die Zwänge des Alltags abstreifen zu können, Familie und Beruf zu ersetzen durch Metal und Bier. Es ist eine Art Zweitexistenz die sich viele Dauergäste über die Zeit aufgebaut haben, ein paralleles Leben, das im Jahr lediglich vier Tage voranschreitet. Eine Ausweitung der Pubertät bis ins Rentenalter ist auf diese Weise ein Leichtes. Die von dieser Gruppe häufig geäußerte Kritik, das Festival sei nicht mehr so wie früher, richtet sich folglich weniger gegen die tatsächlichen Auswüchse zunehmender Kommerzialisierung, sondern entspringt vielmehr einem Lebensstil, in dem die Zeit über Jahre nahezu stillsteht. Dass da auch die kleinste Entwicklung rasant und beängstigend erscheint, mag kaum verwundern.

Thomas Jensen leave those Kids alone!

Die 23. Auflage des Festivals begann nahezu idyllisch, zwei Tage lang schien die Sonne und man feierte einträchtig die omnipräsenten Shanty-Shooting-Stars Santiano indem man „Alle die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein“ grölte. Der Freitagnachmittag brachte dann die Wende, Regen und Sturm zogen aus dem Nichts auf, Pavillons segelten auf Nimmerwiedersehen davon und ganze Campgrounds wurden weggespült, vermutlich bis runter zum nächsten Hafen. Als sich dann noch die Gehwege in übel riechende Schlammlöcher verwandelten, waren die Besucher auf Wacken ebenso auf sich gestellt sind, wie die Spartaner in der Wildnis. Von Seiten der Festivalleitung gab es an Gehwegen und Zeltplätzen keinerlei Präsenz, auch eine Kommunikation über die Spruchbänder oder Videoleinwände fand nicht statt. Big Brother beobachtet dich nicht mehr – er dreht sich demonstrativ in die andere Richtung und pfeift desinteressiert ein fröhliches Liedchen.

Von den Sünden der Väter

Da verwunderte es wenig, dass sich der Platz im Laufe des Samstags bereits zunehmend leerte und sich auch der Auftritt der Scorpions am Abend dieses Tages vor diesem Hintergrund durchaus sinnbildlich ausnahm: Stimmlich desaströs und sichtbar altersmüde spulten die Hannoveraner-Hardrock-Relikte ihr Programm ohne Rücksicht auf das Publikum herunter. Zwar wollte man sich mit dieser Show kurz vor dem angekündigten Karriereexitus offensichtlich wohl noch einmal durch die Hintertür in den Metal-Himmel schleichen, doch bewies die Band dabei letztlich nur, dass sie den nachgewachsenen Generationen schon lange nichts mehr zu sagen hat. Eine Vätergeneration die aufsteckt, anstatt den Dialog mit ihren Kindern zu suchen, sie zeigte sich an diesem Wochenende in vielerlei Gestalt, eine Bereicherung des Festivals war keine davon.

Gleiches ließ sich auch für die Frühabreisenden konstatieren, die vor den Wölfen flüchteten anstatt ihnen gegenüberzutreten. Sie mögen trockener und schneller nach Hause gekommen sein, ihr Erwachsenwerden aber haben sie um ein Jahr verschieben müssen. Vielleicht werden sie 2013 endlich dasselbe fühlen wie ihre Altersgenossen, die bis zum Sonntagmorgen durchhielten, wofür sie keine größere Belohnung erhielten als einen Abreisestau, in dem 3 Stunden für 150 Meter einer geradezu olympischen Zeit gleichkamen. Sie kehrten spät heim, halbtaub, schlammverkrustet und vernarbt. Dafür wird ihnen niemand mehr vorschreiben können, was sie zu tun oder zu lassen haben. Sie sind jetzt echte Metaler.

Autor*in

Janwillem promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft. Er schreibt seit 2010 regelmäßig für den Albrecht über Comics und Musik, letzteres mit dem Schwerpunkt Festivalkultur.

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