Professorin Silke Göttsch-Elten aus der Europäischen Ethnologie/Volkskunde spricht im Interview mit dem Albrecht über die Bestattungskultur verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Die renommierte Wissenschaftlerin erklärt, wie unterschiedliche Bestattungskulturen erforscht werden können.

DER ALBRECHT: Warum ist Bestattungskultur für die Europäische Ethnologie/Volkskunde überhaupt ein Thema?

Göttsch-Elten: Wie eine Gesellschaft mit ihren Toten umgeht, sagt sehr viel über ihre kulturellen Vorstellungen, Normen und Werte aus. Wie Friedhöfe gestaltet und genutzt werden, hat sich im Laufe der Zeit stark verändert und man kann bis heute kulturelle Differenzen beobachten. So sieht zum Beispiel ein katholischer Friedhof in Süddeutschland anders aus, als ein evangelischer in Skandinavien. Denn Friedhöfe sind ja ein Ort, den sich die Lebenden aneignen, um an die Toten zu erinnern. Geht man heute über Friedhöfe, so fallen dem Besucher leere Grabfelder auf, denn Urnengräber und anonyme Bestattungen verändern unsere Gräberkultur. Viele Friedhöfe sind wie Parks gestaltet, eine Idee, die sich um 1800 durchgesetzt hat, und vielerorts sind Friedhöfe auch Orte der Besinnung und Erholung. Manche Friedhöfe sind touristische Sehenswürdigkeiten, weil berühmte Personen dort bestattet wurden oder ihre Anlage kulturhistorisch bemerkenswert ist. Friedhöfe sind also unter vielen Aspekten interessant für eine Untersuchung unserer Alltagskultur.

Aber es gibt ja nicht nur christliche Friedhöfe?

Göttsch-Elten: Nein, heute sind viele Friedhöfe kommunal, das heißt, nicht mehr konfessionell gebunden. In Städten finden wir auch historische jüdische Friedhöfe, die allerdings häufig versperrt sind. Grund dafür kann zum Beispiel die Sorge vor Grabschändungen sein. Da die Gräber nicht aufgelassen werden, finden wir dort viele sehr alte Grabsteine, Stelen mit zum Teil hebräischen Inschriften, die etwas über die Erinnerungskultur vergangener Zeiten erzählen. Die Gräber sind nicht abgegrenzt, wie wir das üblicherweise kennen. Allerdings ist ja zu beobachten, dass die penibel umgrenzten Grabstellen mehr und mehr zugunsten von Rasenflächen mit schmalen Blumenbeeten aufgegeben werden. Interessant ist es, dass auch christliche Glaubensgemeinschaften wie zum Beispiel die Herrnhuter Glaubensbrüder eine eigene Friedhofskultur entwickelt haben, die man beispielsweise in Christansfeld bei Hadersleben anschauen kann.

Kann man denn solche kulturellen Unterschiede in der Nutzung von Gräbern auch bei uns beobachten?

Göttsch-Elten: Ja, zum Beispiel auf dem Friedhof in Elmschenhagen befinden sich die Gräber der dort lebenden Sinti-Familien, die ja in der Regel katholisch sind. Für Außenstehende mag es verwunderlich sein, dass auf einigen von ihnen beispielsweise Aschenbecher mit ausgedrückten Zigaretten stehen. Aber wenn man genauer hinschaut, ist das ein sichtbares Zeichen für die Verbundenheit mit den verstorbenen Verwandten, mit denen man zumindest symbolisch gemeinsam feiert. So kann man an einem Sonntagnachmittag Familien auf dem Friedhof beobachten, für die es ganz selbstverständlich ist, ihre Verstorbenen zu besuchen. Das ist ein vielleicht ‚lebendigerer‘ Umgang mit Gräbern, als wir das gemeinhin kennen.

Welche aktuellen Entwicklungen in der Friedhofskultur gibt es?

Göttsch-Elten: Immer beliebter werden im Augenblick die sogenannten Ruheforste oder Friedwälder. Es gibt nicht wenige Menschen, die nicht mehr auf Friedhöfen bestattet sein wollen, sondern sich einen Platz in der Natur aussuchen. Dort erinnert häufig nur eine Plakette an einem Baum an die Verstorbenen, die dort urnenbestattet sind. Solche Entwicklungen haben etwas mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun: der Wunsch nach Individualität, ein neues Naturverständnis, aber auch die Überlegung, dass damit den Angehörigen die Sorge um die Gräber genommen wird. Es gibt also viel für eine Kulturwissenschaft wie die Europäische Ethnologie zu erforschen.

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