Töchter verraten ihren Vater, Väter verstoßen ihre Kinder und Irre erkennen die Wahrheit: Mit Shakespeares „König Lear“ wurde am 1. Oktober die Spielzeit 2011/12 im Kieler Schauspielhaus eröffnet.

Der alternde König Lear (Rainer Jordan) ist des Herrschens müde geworden und will sein Reich unter seinen drei Töchtern Goneril (Yvonne Ruprecht), Regan (Isabel Baumert) und Cordelia (Pina Bergemann) aufteilen. Doch zuvor verlangt er nach Liebesbezeugungen für seine Gunst. Wider allen Erwartungen besteht nicht seine jüngste Tochter den Liebestest. Sein Land geht an seine gierigen Töchter Goneril und Regan. Schnell machen diese ihrem Vater klar, dass er ausgedient hat und in ihrem Reich kein Platz mehr für ihn ist.

Isabell Baumert und Werner Klockow. Foto: Struck-Foto

Der Vater geht auf die Knie vor seiner Tochter. Stolz und Würde sind aus seinen Worten gewichen. Hier manifestiert sich, was zum dominierenden Thema der Handlung wird. Macht ist vergänglich. Und das Leben sowieso. Denn der Kniefall des alten Königs vor seiner stolzen Tochter spiegelt nicht nur seinen Machtverlust wider, sondern wird zum Sinnbild für Alter und Vergänglichkeit. Shakespeare lässt nicht „in Würde altern“ und ist spätestens hier thematisch im 21. Jahrhundert angekommen.

Eine Schneemaschine lässt ein tosendes Unwetter los und kündigt somit den Anfang vom Ende an. Von nun an geht es rasant bergab. König Lear irrt durch die Sturmlandschaft und verfällt, verstoßen von seinen Töchtern und verlassen von seinen Gefährten, dem Wahnsinn. Und so ist nicht nur Lears Bewusstsein, sondern sind auch bald alle anderen Beziehungen des Stückes von Auflösung begriffen. Gier und Geltungssucht treiben die höfische Clique ins Verderben.

Erst in der Blindheit und im Wahn kommt der Herrscher zur Besinnung und erkennt seine Fehler. Zu spät, denn Lear bezahlt mit seinem und dem Tod seiner jüngsten Tochter für seine Fehler.

Das Drama des Monarchen ist um einige Nebenrollen schlanker gemacht und zum leichteren Verständnis liegt der Handlung eine moderne Übersetzung zugrunde. Und dennoch, die Dialoge füllen den Raum. Das reduzierte Bühnenbild lässt Shakespeares Worte in ihrer Stärke und Ausdruckskraft zur Geltung kommen. Sie malen ihre eigenen Bilder auf die Bühne.

Isabel Baumert und Rainer Jordan. Foto: Struck-Foto.

Die Vielschichtigkeit von Shakespeares Charakteren wird nicht nur in den Dialogen überdeutlich. Die schnörkellose Bühnengestaltung trägt ihre Entwicklung einmal mehr in den Vordergrund: Shakespeare schafft wirkliche Menschen und wahrhaftige Situationen. Kein Mensch ist nur gut oder schlecht, auch auf der Bühne nicht. Die Entscheidung für oder gegen den König wird dem Zuschauer schwer gemacht. Gegen den selbstgerechten Monarchen oder für den alternden Patriarchen? Und ist das Scheusal Edmund nicht nur das Produkt einer menschenverachtenden höfischen Gesellschaft? Der englische Dichter fordert den mündigen Zuschauer.

Die authentischen Wechsel zwischen eitlem Herrscher und alterndem Vater sind bezeichnend für die grandiose Leistung Rainer Jordans und beschreiben eindringlich das Dilemma des betagten Königs. „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.“ Aber auch Marko Gebbert als treuer Gefährte Lears und Claudia Friebel als Narr sind die Rollen auf den Leib geschneidert. Den Spaß am Spiel kann man ihnen nicht absprechen, genauso wenig wie Siegfried Jakob als König von Frankreich.

Rudi-Julian Hindenburg als verachtetes Kuckuckskind Edmund strotzt in seinem „Gespräch an den Dämon“ vor Enttäuschung und Welthass. Er kann an die ungebrochene Stärke des Monologes in Folge aber kaum mehr anknüpfen. Während die Rolle des Edgars zunächst blass bleibt, findet sich Marius Borghoff, als seine Figur am Boden zerstört liegt, in ein beeindruckendes Spiel hinein – und macht Edgar schließlich zu einer der stärksten Figuren des Stücks.

Die königlichen Schwestern bleiben in ihrer Darstellung allerdings hinter der Leistung der anderen zurück. So scharfzüngig die Dialoge gedacht, so wenig Biss zeigen Yvonne Ruprecht und Isabel Baumert in ihrer Darbietung. Intrigen getarnt als Kaffeekränzchen. Der Wolf im Schafspelz sozusagen. Halbherzig trägt auch Pina Bergemann als die jüngste Tochter dem Herrn Vater ihre Liebe vor. Sie scheint zu ahnen, dass sie in dieser Runde leer ausgeht – wie schon all die 400 Jahre zuvor. Aber auch im finalen fünften Akt bringt sie kaum mehr Herzblut auf die Bühne – das Ende naht, ist unabwendbar. Wozu also die ganze Aufregung?

König Lear überzeugt vor allem durch Kurzweil. Komische Elemente heben die Schwere der Handlung auf und holen den Zuschauer aus dem 17. ins 21. Jahrhundert. Sie schaffen das, was mancher Deutschlehrer vergeblich versuchte, sie verknüpfen Shakespeare mit dem Hier und Heute. „Through tatter’d clothes great Vices do appeare: Robes and Furr’d gownes hide all.“ – „Durch zerlumpte Kleider sieht man die kleinsten Laster; lange Röcke und Pelzmäntel verbergen alles.” (4. Akt, 6. Szene). Das Prinzip der Macht scheint bis heute unverändert, das zeigt auch Daniel Karasek in dieser schlichten, pointierten Version von König Lear.

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