Er ist das links schlagende Herz der französischen Comic-Szene: Hervè Baruleva, Kampfname Baru, erzählt seine Geschichten vom Rande der Gesellschaft so, als hätten Serge Gainsbourgh und Joe Strummer gemeinsam den Zeichenstift geführt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei stets dem Migrationshintergrund der Figuren, weshalb es kaum verwundert, dass Barus neuester Streich „Hau die Bässe rein, Bruno!“ nicht in Frankreich, sondern in einem kleinen afrikanischen Dorf beginnt.

Hier träumt der junge, hochtalentierte Slimane von einer Karriere als Profifussballer. Ein Traum dessen Erfüllung zum Greifen nahe scheint, als sein Landsmann Osman Traore, der es mittlerweile zum Starspieler eines französischen Vereins gebracht hat, das Dorf besucht. Beeindruckt von seinen Ballkünsten offeriert er Slimane ein Probetraining, allerdings hat die Sache einen Haken: Slimane muss auf eigene Faust nach Frankreich kommen. Als ihm dies schließlich auf illegalem Wege gelingt, wartet jedoch keine glänzende Zukunft auf ihn, sondern Tagelöhnerei und Kleinkriminalität. Er betritt damit das Metier des cholerischen Gangsters Zizou, der kaum aus dem Gefängnis entlassen, seinen großen Coup plant. Ein Vorhaben, das auch Slimanes Schicksal nachhaltig beeinflussen wird.

„Hau die Bässe rein, Bruno!“ beginnt furios. Solange Baru Slimanes Leben und seinen Aufbruch in eine vermeintlich bessere Zukunft verfolgt, gelingt ihm große, moderne Comic-Literatur. Dialoge sind dabei selten von Nöten, der Rhythmus der Bilder und das pointiert-karikaturhafte Minenspiel der Figuren spricht Bände. Als allerdings die Geschichte Zizous als Parallelhandlung eingeführt wird, schrumpft „Bruno“ zum aufgesetzten Gangster-Groschenroman. Sprich: Figuren, Dialoge und Brutalität dieses Coleurs hat man schon vielfach besser gesehen. Die einzig neue Erkenntnis nach 100 Seiten monotonem Mündungsfeuer ist jene, dass der Erwerb von Handfeuerwaffen in Frankreich auch nicht komplizierter zu sein scheint als im schießwütigen Amerika.

Sehr unfranzösisch das Ganze, mag man da am Ende nur bilanzieren. Und sehr untypisch für Baru. Auch wenn Bruno (übrigens eine unwichtige Nebenfigur) die Bässe bis zum Anschlag aufdreht: Nach dem afrikanischen Intro groovt hier gar nichts mehr.

Baru: Hau die Bässe rein, Bruno! Edition 52. 126 Seiten (farbig), Klappenbroschur. 22 Euro.


Comics des Monats:

Autor: Tsukiji Nao
Titel: Adekan – Band 1
Verlag: Egmont Manga & Anime. 192 Seiten (sw), Taschenbuch. 7,50 Euro.
Werung: ★★

Ein junger Wachtmeister und ein lasziver Schirmmacher mit einer ausgeprägten Antipathie gegen das Tragen von Unterwäsche geraten im alten Japan in abstruse Kriminalfälle: Von Geistererscheinungen bis zu monströsen Killerhunden reicht das Spektrum, das Sherlock Holmes nur so mit den Ohren hätte schlackern lassen. Dabei gestaltet sich jede Auflösung eines Falls haarsträubender als die Vorangegangene. Schon diese Zusammenfassung lässt keinen Zweifel daran: Der Manga „Adekan“ ist wohl eine der absonderlichsten Konzeptionen des laufenden Comicjahres, eine Travestie, die zwischen zwei Bildern von absoluter Ernsthaftigkeit zu klamottigem Witz chargiert. Sprich, ein Werk, dem Kritiker mit Vorliebe das abschätzige Prädikat „Für Fans“ attestieren, obwohl sie sich selbst beim besten Willen nicht vorstellen können, von was diese denn bitte Fans sein sollen. Fans von Schirmmachern ohne Unterhosen? Oder schlicht solche, die eine krankhafte Abneigung gegen konventionelle Geschichten hegen? Zumindest die könnten in „Adekan“ dann tatsächlich ihre Erfüllung finden. Ob mit oder ohne Unterwäsche.


Autor: John Layman (Szenario), Rob Guillory (Zeichungen)
Titel: Chew – Bulle mit Biss! Band 2: Reif für die Insel
Verlag: Cross Cult. 140 Seiten (farbig), Hardcover. 16,80 Euro.
Werung: ★★★★

Die Bezeichnung „Sonderermittler” trifft wohl auf niemanden besser zu als auf den Polizisten Tony Chu, dessen spezielles Talent mit „absonderlich” noch zurückhaltend umschrieben ist. Tony kann, sobald er in etwas Essbares (und das schließt auch Mordopfer mit ein) beißt, Informationen über die Speise erhalten und somit Verbrecher fassen, die den konventionellen Ermittlungsmethoden entkommen. Die Suche nach illegalem Geflügelhandel (nachdem die Vogelgrippe 116 Millionen Menschen tötete, ist der Verzehr von Federvieh in der Welt von „Chew“ illegal) führt ihn diesmal auf eine entlegene Insel. Hier wird scheinbar eine Frucht angebaut, die Hähnchengeschmack imitiert und damit die Aufmerksamkeit diverser Krimineller auf sich zieht. Verglichen mit dem ersten Band „Leichenschmaus“ legt der Fünteiler „Reif für die Insel“ gehörig an Tempo und Originalität zu und löst damit die Versprechen ein, die zuvor noch reine Behauptung blieben. Hier kann sich jeder, der mit robustem Magen und Humorverständnis ausgestattet ist, bedenkenlos den Bauch voll schlagen.


Autor: Laetitia Devernay
Titel: Applaus
Verlag: Mixtvision. 64 Seiten (farbig), Leoporello-Hardcover. 19,90 Euro.
Werung: ★★★

Ein Dirigent steigt auf einen Baum, erweckt dessen Blätter zum Leben und formt daraus eine Symphonie. Was kann man aus so einer Geschichte machen? Zumindest neun Meter. So lautet jedenfalls die Antwort im Falle der Illustratorin Laetitia Devernay und ihrem ungewöhnlichen ersten Comic „Applaus“. Dieser lässt sich nämlich sowohl in konventioneller Weise durchblättern als auch vollständig ausklappen, so dass eine 900 Zentimeter lange Bilderstrecke entsteht. Diesem formal hochwertig umgesetzten Kunstgriff verdankt „Applaus“ einerseits eine Ausnahmestellung in der gegenwärtigen Comicwelt, andererseits ist mit ihm auch alles Relevante über das Werk gesagt. Zwar vermag Devernay es, auf eigentlich stummen Papier eine opulente Musikalität zu erzeugen, darüberhinausgehende Substanz lässt sie aber schmerzlich vermissen. So ist ihr Buch, kaum dass man es wieder zusammengefaltet hat, auch schon wieder vergessen. Damit hat es eine Halbwertszeit von 4 ½ Metern.


Autor: Lax
Titel: Sarane
Verlag: Schreiber & Leser. 73 Seiten (farbig), Klappenbroschur. 16,80 Euro.
Werung: ★★★

Manchmal brauchen sie länger: Bereits 1994 in Frankreich erschienen, findet das Debüt des Zeichners Christian Lacroix (besser bekannte unter seiner Signatur „Lax“) nun endlich auch den Weg in den deutschen Buchhandel. Er erzählt darin von Sarane, der Frau eines Kommandanten, die ihm Jahre 1926 von einem Truppenstützpunkt in der Sahara flieht und bei dem Wüstenstamm der Tuareg ein neues Leben kennen lernt. Lax erzählt diesen Kulturclash in gleichsam ausdrucksstarken und sinnlichen Bildern, die einen Sandsturm der Emotionen entfesseln. Zum lauen Lüftchen verkommt hingegen die Rahmenhandlung, die in der Gegenwart (also 1994) zeigt, wie Sarane als alte Frau an ihre Vergangenheit zurückdenkt. Hier rieselt der Sand ins Getriebe der Erzählung und lässt es knirschen, bis die Handlung fast vollständig zum Erliegen kommt. Die Bilder lassen sich von derartigen Bagatellen jedoch nicht beeindrucken und fließen elegant weiter, so dass man am Ende fast glauben könnte, eine Geschichte ganz ohne Worte gelesen zu haben. Die Sahara spricht schließlich für sich. Und Lax beweist sich als echter Wüstenfuchs.


Autor: Volker Hamann / Matthias Hofman (Herausgeber)
Titel: Comic Report 2011
Verlag: Edition Alfons. 144 Seiten, Softcover. 9,95 Euro.
Werung: ★★★★

Während der Einzelhandel in seinen Regalen schon wieder Platz für die Weihnachtsartikel schafft, blickt der „Comic Report“ erst jetzt auf das Kalenderjahr 2010 zurück. Die Absicht, diese zwölf Monate publizistisch aufzuarbeiten, ohne dabei in trockenes Dozieren zu verfallen oder sich in Banalitäten zu verlieren, wird hier durchaus erfolgreich umgesetzt: Auf 144 Seiten gelingt es, Beiträge zu versammeln, die von Superhelden über Mangas, bis hin zu Forschung und Verfilmungen das gesamte Spektrum der Kunstform in angemessener Weise abdecken. Zwar hätte man sich gerade für eine Pilotausgabe ein aktuelleres Titelthema gewünscht, als einen ausufernden Artikel über den Westernklassiker „Jerry Spring“ und einige Beiträge erschöpfen sich noch im bloßen Paraphrasieren von Neuerscheinungen. Dies wird aber durch hochwertige Anekdoten kompensiert, beispielsweise der Geschichte von Ein-Mann-Verleger Christian Bachmann, der vom Küchentisch aus Sekundärliteratur über Batman veröffentlicht. Pointiert erzählt dürften daran auch diejenigen ihre Freude haben, die noch nie einen Comic in der Hand gehalten haben. Eine schöne Bescherung mitten im Sommer.


Wiederveröffentlichung des Monats:

Autor: Marc-Antoine Mathieu
Titel: Tote Erinnerung
Verlag: Reprodukt. 64 Seiten, Softcover. 13 Euro.
Werung: ★★★★

In einer komplett durchorganisierten Stadtgesellschaft, deren Bewohner ständig eine Black-Box mit sich herumtragen, die sie mit einem Zentralcomputer vernetzt, geschehen plötzlich seltsame Dinge: Nicht nur durchziehen scheinbar über Nacht errichtete riesige Mauern auf einmal das Stadtbild, auch scheinen die Bewohner langsam aber sicher das Sprechen zu verlernen. Ein heikler Auftrag für den Beamten Firmin Houffe, der mit der Aufösung der rätselhaften Ereignisse betraut wird. Marc-Antoine Mathieus Comics sind in hartem Schwarz-Weiss gehaltene postmodern-philosophische Diskurse über Realität und Wahrnehmung – quasi „Matrix“ ohne Kung-Fu. Der Band „Tote Erinnerung“, der nach elf Jahren in einer zweiten Auflage erscheint, macht da keine Ausnahme. Die bedrückend-eindrucksvollen Bildfolgen legen einmal mehr den inflationär bemühten Vergleich mit einer Größe der deutschsprachigen Literatur nahe, die hier aber passt wie die Wand ans Zimmerende: Hätte Franz Kafka an irgendetwas seinen Spaß gehabt, „Tote Erinnerung“ wäre für ihn das schiere Vergnügen gewesen.

Autor*in

Janwillem promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft. Er schreibt seit 2010 regelmäßig für den Albrecht über Comics und Musik, letzteres mit dem Schwerpunkt Festivalkultur.

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