Vor zwei Wochen habe ich meinen engsten vierzig Freunden und Freundinnen davon erzählt, dass ich mir jetzt die Haare mal wieder länger wachsen lasse. Folgerichtig gehe ich heute zum Friseur und lasse gut vier Zentimeter in jeder Richtung abnehmen. Kurz nach 17 Uhr betrete ich das Geschäft und nehme Platz. Zuvor bin ich Shoppen gewesen, es gab heute wieder Apanage und ich habe direkt 20 Euro in antiquarische und neuwertige Bücher investiert. Während ich also warte, lese ich ein bisschen in Wunschloses Unglück von Peter Handke, trinke eine Tasse Kaffee und berede mit meinem Sitznachbarn auf der Couch, dass Gründonnerstag der ideale Tag sei, zum Friseur zu gehen – von Sonntagen einmal abgesehen. Viertel nach sechs darf ich mich endlich auf den Stuhl setzen, noch ein Glas Sprudel trinken und gegen halb sieben wird losgeschnitten. Die junge Dame, die die undankbare Aufgabe hat, meine Haare zu bändigen (es soll Dachse geben, die weniger Haare am Körper haben als ich auf dem Kopf), kennt mich schon und so kommen wir direkt ins Gespräch. Bei meinem vorletzten Termin kurz nach der Euroeinführung haben wir angeregt darüber diskutiert, ob Männer oder Frauen es besser hätten. Ich habe meine damals (in Retrospektive eindeutig rein argumentativ begründete) Meinung mittlerweile geändert und stimme ihr zu, dass Männer es besser haben. Immerhin ist das, was manchem als Anmache dient, streng genommen schon sexuelle Belästigung. Die Frau an der Schere zitiert ihren Lieblingsanmachspruch „Deine Augen passen super zu meiner Bettwäsche“. Durch lautes Fönen kurzzeitig betäubt, kann ich erst einige Minuten später erwidern, dass ich den Spruch für perfekt halte. Weiße Bettwäsche passt zu jeder Augenfarbe und überhaupt. Mir fällt noch ein, dass ein Cro-Song mit der Zeile „Ein Klaps auf den Po ist doch die beste Anmache“ glänzte, was bei mir komischerweise eher nicht klappt. Den zweiten Teil verschweige ich. „Ja, das stimmt auch“, wird mir geantwortet. Vor meinem geistigen Auge läuft kurz die Talkshow Britt. Thema der heutigen Ausgabe: „Halts Maul und küss mich!“ Zu Gast ist auch Fine, 21, Friseurin. Auf der Bauchbinde steht: „Kerle in Clubs reden zu viel. Wer mir ‚Hallo‘ sagt, hat schon verkackt.“

Insgesamt ist unser modernes Verhältnis zu Liebe und Sex schizophren. Selbst so moderne, fortschrittliche Poeten wie Enrique Iglesias finden keinen eindeutigen Weg. Auf seinem 2001er Song Escape findet sich die wunderbare Stalkerzeile „You can run, you can hide, but you can’t escape my love“. Das gleichnamige Album enthält aber wenige Minuten weiter schon der Jahrtausendhit Hero, der Soundtrack für eine unschuldige Entjunferungssession dank lyrischer Perlen wie „Am I in too deep?“. Enrique wusste schon damals, wen er wollte: Anna Kournikova. Nur halt nicht, was mit ihr – sollte er sie verfolgen mit seiner Liebe oder besser auf ihre Gefühle achten und lieber zwei Mal nachfragen? Was, wenn sie nicht weint, wenn er weint?! Wie hat Enrique Iglesias eigentlich Anna Kournikova rumbekommen? Klaps auf’n Po? Lustiger Anmachspruch wie „Meine Kondome laufen morgen ab, hilfst du mir, sie zu verbrauchen?“ – ob ein solcher planwirtschaftlicher Misserfolg bei einer Russin zieht? Oder hat er einfach vor ihr geweint, Gefühle und Waschbrettbauch gezeigt und so gewonnen? Er hat sie wohl, wie es die Politik will, dort abgeholt, wo sie stand. Das war wichtig und hat geklappt. Das Problem der Widersprüchlichkeit aktueller Popmusik lässt sich binnen eines Haarschnitts nicht lösen, das ist leider so. Iglesias‘ Epigonen bevölkern die Hitparaden und Herzen. Man will Colin Firth und doch den Bad Boy, man will jemand erfahrenes, aber wehe, es sind zu viele Liebschaften gewesen, man will jemanden, der einen Nagel in die Wand hauen kann und gerne Kamillentee trinkt, jemanden, der auf High Heels laufen kann und am liebsten Chucks trägt, jemand, von dem man etwas lernen kann, aber der bloß nicht schlauer ist, als man selbst. Pragmatismus zählt nicht, da draußen gibt es doch etwas besseres. Miles Teller oder Gigi Hadid, Zayn Malik oder Chloë Grace Moretz, bloß nicht Lotta von gegenüber oder Johann aus der Uni. Wirklichkeit und Wunsch klaffen hier weiter auseinander als Vanessa Paradis‘ Schneidezähne. Kein Wunder, dass wir alle „beziehungsunfähig“ sind, wenn wir ständig bei der Weinprobe nach Korn verlangen. „Klare Kante“ war das Lieblingsworts des Poliers bei meinem letzten Sommerjob aufm Bau. Ansonsten hat er mich nur angeschrien und für krumme Nägel verantwortlich gemacht, aber damit hatte er Recht. Man muss erst mal klare Kante machen, deutliche Aussagen treffen und eindeutige Verhältnisse schaffen, nicht vom Einen ins Nächste stolpern. Dann klappts auch mit der Nachbarin.

Bildquelle: Wikimedia Commons

Autor*in

Paul war seit Ende 2012 Teil der Redaktion. Neben der Gestaltung des Layouts schrieb Paul gerne Kommentare und ließ die Weltöffentlichkeit an seiner Meinung teilhaben. In seiner Freizeit studierte Paul Deutsch und Anglistik an der CAU.

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