Die Theaterwelt des Sechseckbaus

Mit vollgepackten Taschen und ein wenig Verspätung kommt Bettina Hansen am ICK-Punkt an. Die Schauspieler*innen ihrer Theatergruppe Rollentausch warten schon auf sie. Mit herzlicher Umarmung werden alle begrüßt, dann öffnet Bettina die Tür zum Sechseckbau. Im Jahre 1968 wurde der Bau errichtet. Er selbst sowie seine Einrichtung stehen heute unter Denkmalschutz. „Und seitdem gibt es hier Theater“, erzählt uns die Regisseurin des aktuellen Stückes im ICK-Punkt weiter.

Der Sechseckbau ist Teil des Studentenwerks. Die vier Stockwerke sind für das Theaterspiel konzipiert worden. In den Keller wurden Umkleiden für die Schauspieler*innen eingebaut, im Erdgeschoss das Café und die später hinzugekommene Informationsstelle, mit der auch der Name ICK-Punkt kam. Die Theaterbühne selbst befindet sich im ersten Stock. Maske, Kostüme und ein kleines Tonstudio, in dem auch Hörspiele aufgenommen werden können, sind im zweiten Stock eingerichtet. Dort ist auch der Zugang zum sogenannten ‚Schwalbennest‘, von dem aus Technik und Ton geregelt werden. Es sitzt in der Decke vor der Bühne. „Früher waren die Wände neben der Bühne klappbar, sie konnte zu einer Arena umgebaut oder komplett auseinandergenommen werden“, erklärt uns Bettina. Wegen fehlender Sicherheitsvorkehrungen sei das heute nicht mehr möglich.

Neben den Stücken selbst werden viele Kurse rund um das Theater angeboten. Wer Lust hat, kann an Workshops zu Maskenbildnerei, Licht oder Kostüm teilnehmen oder sogar ein eigenes Hörspiel konzipieren und aufnehmen. Die Teilnehmenden bekommen oft die Möglichkeit geboten, das Gelernte im nächsten Stück auszuprobieren. Sie dürfen die Schauspieler*innen schminken, bei Kostümen helfen oder Licht und Ton für das nächste Stück einstellen. Die Theatergruppen arbeiten eng mit den Kursen zusammen und freuen sich über die Unterstützung.

Der Raum ist dunkel. Die beiden Seitentüren gehen auf und die Schauspieler*innen betreten den Vorstellungsraum, Taschenlampen leuchten ihnen den Weg. Dann geht das Licht wieder an und vor uns erscheint die Bühne, lauter grüne Elemente und zwei schwarz gekleidete Schaufensterpuppen mit wirren Haaren sind zu sehen. Mittendrin die Theatergruppe Rollentausch, die gerade die ersten Szenen des Stückes probt.

„Ich hatte schon immer Lust, einmal ein Theaterstück aufzuführen. In der Oberstufe war ich beim Darstellenden Spiel, doch da haben wir keine richtigen Stücke aufgeführt, sondern sehr viel Improvisationstheater gemacht. An der Uni bin ich dann zu einem der angebotenen Informationsabende gegangen. Dort haben sich ein paar der Theatergruppen vorgestellt. Ich habe einfach für das erstbeste Stück vorgesprochen und jetzt bin ich hier“, erzählt uns Julian Völkel, Medizinstudent, der die Rolle des gegenwärtigen Wilhelm Tell im aktuellen Stück der Gruppe Rollentausch verkörpert.

Die Gruppe existiert schon seit 1996. Im Jahre 2000 übernahm Bettina Hansen die Leitung. Bettina sammelte als 17-jährige Austauschschülerin in den USA erste Bühnenerfahrungen, die sie später mit der Arbeit auf und neben der Bühne professionalisierte.

Anders als bei anderen Theatergruppen mit fester Besetzung wird bei Rollentausch das Ensemble je nach Stück neu zusammengestellt. „Es gibt dann immer ein Casting, denn ich kann mir die Leute schlecht nur vorstellen. Ich muss sie mir angucken, um zu sehen, wie es mit den Größenverhältnissen ist, ob das Aussehen zu der Rolle passt, auch in Bezug darauf, wie sie sich bewegen und sprechen“, erklärt die Leiterin.

Momentan gibt es schätzungsweise sieben Theatergruppen, von denen nicht alle aktiv sind. Einige pausieren, bis sie ein neues Stück produzieren. „Es waren mal so viele, dass sich regelrecht um Probezeiten gekloppt werden musste und es schwierig war, überhaupt Aufführungen zu bekommen“, erzählt Bettina. Jede Gruppe, die sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt anmeldet, bekommt eine Aufführungsphase von zwei bis vier Wochen zugeteilt. Meistens sind es dann fünf Aufführungen pro Gruppe, die, im Unterschied zum herkömmlichen Theater, ohne wechselndes Programm direkt hintereinander aufgeführt werden.

Als Leiterin einer Theatergruppe ist immer viel zu tun. „Ich mache praktisch alles: die Regie, die Ausstattung und den Organisationskram. Ich habe aber auch Leute aus der Gruppe, die mir dabei helfen. In anderen Gruppen ist es beispielsweise so, dass die Aufgaben untereinander aufgeteilt werden. Eine Person ist Gruppenleiter*in, jemand anderes macht die Regie und eine dritte Person kümmert sich um die Requisiten und die Kostüme. Aber ich liebe es einfach so sehr, mich um diese Dinge zu kümmern, daher mache ich es lieber selbst. Obwohl es wohl klüger wäre, wenn man die Organisation etwas abgibt. Es ist schon anstrengend und auch viel“, so Bettina.

Mit Drusilla im Schattenreich – von Helden und Tyrannen inszeniert die Theaterliebhaberin, die hauptberuflich als Pastorin arbeitet, ihr erstes komplett selbstgeschriebenes Stück. „Ich wollte ein Stück über Freiheit produzieren. Da fielen mir Wilhelm Tell und Caligula in die Hände, beides Stücke, bei denen es um Freiheit geht. Ich habe darüber nachgedacht, wo sich Tell und Caligula begegnen könnten, der Widerstandskämpfer und der Tyrann – nur im Jenseits, schließlich haben sie 1 300 Jahre auseinander gelebt. Dann gibt es auch noch Drusilla, die Schwester des Caligula. Den beiden wurde ein inzestuöses Verhältnis nachgesagt. Ich habe mich gefragt, was das genau bedeuten würde. Auch Missbrauch, der in dem Stück eine Rolle spielt, ist ein relativ aktuelles Thema. Geschrieben habe ich es in ein paar Wochen, aber die Vorarbeit war sehr viel intensiver. Das ganze Lesen, das ganze Streichen und nachher war es schon so, dass die Figuren anfingen, mich nachts zu wecken und mit mir zu reden. Danach ging es relativ schnell“, erzählt sie über den Entstehungsprozess des Stückes. Als kleine Besonderheit werden gefilmte Flashbacks der historischen Figuren bei der Aufführung gezeigt.

Mit vielen neuen Erkenntnissen und spannenden Fakten verlassen wir den Sechseckbau hinein in den kühlen und schon dunklen Abend und stellen fest, dass es sich lohnt, hinter die graue Fassade des eher unscheinbaren Gebäudes zu blicken. Es gibt dort viel zu entdecken.

Autor*in

Johanna studiert seit dem Wintersemester 2016/17 Deutsch und Soziologie an der CAU. Sie ist seit Oktober 2016 Teil der ALBRECHT-Redaktion. Von Juli 2017 bis Januar 2019 war sie als Ressortleiterin für die Kultur verantwortlich. Sie war von Februar 2019 bis Januar 2022 Chefredakteurin des ALBRECHT.

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