Stethoskop, weiße Kittel und Mundspachtel: Jeder kennt sie als mehr oder weniger angenehmen Teil des Arztbesuches. Vielen wesentlich weniger bewusst, aber in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen, ist die Anamnese. Sie bezeichnet das Erstgespräch zwischen Ärzt*in und Patient*in und ist dazu gedacht, die wichtigsten medizinischen Informationen zu erfahren: Fragen über Beschwerden, Medikamenteneinnahme und Vorerkrankungen sollen so beantwortet werden. Die Voraussetzungen für einen ehrlichen und offenen Austausch zwischen Patient*in und Therapeut*in werden dabei jedoch von nicht-sachlichen Aspekten bestimmt: Geduld, Natürlichkeit und Einfühlungsvermögen geben den Ton eines jeden Ärzt*in-Patient*in-Verhältnisses an.
Doch wie sieht ein natürliches Verhalten angesichts schwerwiegender Diagnosen oder schambehafteter Thematiken aus? Fragen, die zwar im Rahmen des medizinischen Curriculums aufgegriffen werden, deren uniforme Antworten jedoch im besten Fall hölzern und im schlimmsten Fall verunsichernd wirken. Ein universitäres Lehrformat, das primär auf die Vermittlung von Sachinhalten ausgerichtet ist, stößt bei der Vermittlung zwischenmenschlicher Kompetenzen an seine Grenzen. Gutgemeinte Ratschläge wie „Seien Sie empathisch“ lassen sich schließlich nicht so leicht umsetzen wie die richtige Dosierung einer Antibiotikatherapie.

Einübung in der Gruppe
Das Konzept der Anamnesegruppe greift diese Problematik auf. Der freiwillige Zusammenschluss aus Studierenden der Humanmedizin und Psychologie bietet die Möglichkeit, das universitäre Konzept um zusätzliche Erfahrungen im Umgang mit Patient*innen zu ergänzen. Dazu trifft sich die Gruppe wöchentlich, um sich im Anamnesegespräch zwischen Studierenden und Patient*innen zu üben.
„Ziel ist es nicht, ein perfektes Gespräch zu führen, sondern vielmehr eine Sensibilität zu entwickeln für sich selbst, die eigenen Gefühle und die Wirkung im Umgang mit den Patienten“, heißt es aus dem Organisationsteam.
Das fachliche Wissen über den Ablauf eines Anamnesegespräches gibt dabei die Leitstruktur vor, tritt jedoch in der anschließenden Feedback-Runde in den Hintergrund. „Die Anamnesegruppe bietet Raum für Diskussion und Reflexion auf einer tieferen Ebene, als es häufig in den regulären Unikursen möglich ist. Durch die konstante Gruppenzusammensetzung mit zehn bis fünfzehn Studierenden wird ein Rahmen kreiert, in dem auch intensive Erfahrungen gut aufgefangen werden können“, sagen die studentischen Organisatoren. So bietet die Anamnesegruppe Interessierten die Möglichkeit, eine individuelle Antwort auf die eigene Frage nach einem authentischen und natürlichen Umgang mit Patient*innen zu finden. Die Idee der Anamnesegruppen hat sich inzwischen in Deutschland und Österreich verbreitet, sodass der Austausch der Gruppen untereinander ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit ist. Jedes Jahr findet dazu das Maitreffen der Anamnesegruppen statt, in dem sich die Teilnehmenden in Workshops und Vorträgen gezielt mit ausgewählten Themen beschäftigen. Das diesjährige Treffen fand in Kiel zum Thema Gewalt statt: Kommunikative Gewalt, die sich in der Sprache zwischen Ärzt*in und Patient*in manifestiert, aber auch strukturelle Gewalt, die sich aus Drittinteressen entwickeln kann.

Patient – Kunde – Konsument?
Im letzten Vortrag der Veranstaltung ging es um diese Korruption der intimen Beziehung zwischen Ärzt*in und Patient*in durch Einflüsse mächtiger Dritter. Der Medizinhistoriker Paul Unschuld sprach über Finanzmärkte, Kosten und Umsatz sowie entmündigte Ärzt*innen.
Zu Anfang beschrieb er das Ideal einer Ärzt*in-Patient*in-Beziehung: so eng, dass kein Blatt dazwischen passe. Mit den Anforderungen eines komplexen Gesundheitssystems gewännen jedoch Interessen Dritter an Einfluss. Unschuld spitzt diese Entwicklung auf zwei zentrale Fragen zu: Hat der Staat ein Interesse an gesunden Bürgern? Und welche Umbrüche finden im Gesundheitswesen unter den Einflüssen der wachsenden Finanzwirtschaft statt?
Unschulds Antwort auf die erste Frage ist beunruhigend: In der modernen industrialisierten Gesundheitswirtschaft habe der Staat kein Interesse an gesunden Bürgern. Gesundheit sei Selbstzweck. Wer gesund sein wolle, müsse sich selbst darum kümmern. Anders sei das bis vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen, als ein starker Staat starke, also gesunde, Bürger brauchte. Heute aber werde Gesundheit zur Ware. Und die Nachfrage für diese Ware sei groß, entscheidender noch: Sie könne gelenkt werden. Hier kommt die Finanzwirtschaft ins Spiel. Sie sorge durch gezielte Investitionen, Vorgaben und Zwänge dafür, dass anstelle von Patient*innengesundheit Umsatz und Rendite erste Handlungsmaxime seien. Krankheit werde zur Definitionsaufgabe, die nur eine Frage der Kreativität sei, und Behandlung zu einem Schlachtfeld ökonomischer Interessen.
Ärzt*innen würden in diesem System zunehmend entmündigt. So gehe es in Krankenhäusern immer weniger um das Wohl der Patient*innen (Beispiel: Verlegen einer OP in die Abendstunden für Nachtzuschläge), sondern um monetäre Interessen. Diese Botschaft wollte Unschuld den angehenden Ärzt*innen im Fahrradkinokombinat mitgeben. Aber wie sie konkret handeln sollen, ließ er offen; er begnügte sich damit, eine Atmosphäre der Angst zu schaffen. Zwar leuchten seine Thesen zum Teil intuitiv ein, dennoch lieferte er keine empirischen Nachweise. Auf seine fehlende Handlungsorientierung angesprochen, reagierte er mit Zynismus: Er sei „nur noch Beobachter“. Die Aufgabe gab er an die Medizinstudierenden weiter: Findet ein Medikament.

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