Wie andere Leben die eigenen Sichtweise offenbaren

Bei einer Unterhaltung über politische, soziale oder stilistische Belange mit Freunden oder wahllosen Fremden auf der WG-Party in einer Studentenstadt wird in Grundsatzfragen nur selten widersprochen: Positiv ist die Aufnahme von Flüchtlingen, Marteria, Instagram, Fjällräven und Bouldern. Negativ sind Geschlechterrollen, Helene Fischer, Displaybrüche, Thor Steinar und der HSV.

Wie homogen die Meinungen zu vielen Themen in meiner akademischen, deutschen Umwelt sind, wird mir in neuer Intensität bewusst, seit ich Wege fast nur noch als Anhalterin bestreite. Seit mehr als zwei Jahren trampe ich aus Überzeugung und mit Begeisterung für die Zufälle, Begegnungen und Geschichten. Mit jedem einzelnen Auto werde ich herzlich in die Realität des Fahrenden eingeladen. Dadurch werde ich regelmäßig mit Lebenskonzepten konfrontiert, die in der studentischen Blase, die meine eigene Realität darstellt, wenig Platz finden, durch Geschichten aus dem Berufsleben, dem Rentnerdasein, von und über Menschen anderer Länder. Geschichten von Erfolg, Scheitern, Stillstand und Veränderungen. Es ist mir wichtig, diese Geschichten mitzunehmen und zu teilen, da allein das Teilen von Meinungen und Erlebnissen uns zu den reflektierten Menschen macht, die wir hoffentlich sein wollen.

Als 2015 über die Balkanroute und das Mittelmeer Geflüchtete nach Deutschland kamen, entstand aus dem Nichts Hilfe. Es wurden Spenden in Form von Geld, Klamotten und Möbeln gesammelt und die Erstaufnahmeeinrichtungen wuchsen Container für Container. In meinem Umfeld waren alle der Meinung, es sei notwendig diese Menschen aufzunehmen und zu integrieren, um ihnen ein Leben fern vom Krieg zu ermöglichen. Doch der Konsens, der darüber unter den meisten Deutschen herrschte, ist keinesfalls selbstverständlich. In den Sommern 2016 und 2017 bereiste ich osteuropäische Länder, unter anderem einige, durch die zuvor Menschenmassen gen Mitteleuropa wanderten. Dort begegneten viele der deutschen Aufnahmebereitschaft mit Skepsis oder gar Verachtung. Ich wurde trotz meines goldenen Haars mehrfach vor der Mitnahme nach meinem Pass gefragt und dann erleichtert und mit einem Gespräch über das Unwollen von Flüchtlingen ins Auto bugsiert. Erst vor kurzem unterbreitete mir ein Pole seine Meinung zu diesem und anderen Themen, die vielen Dingen, die ich für selbstverständlich halte, widersprach. Er warf Angela Merkel für ihre anfängliche Offenheit gegenüber Flüchtlingen Kompetenzlosigkeit und Dummheit vor. Auf Sätze wie „Migrants are catastrophe!“ probierten meine Mitfahrenden und ich anfangs mit unserer Meinung zu kontern, doch es gab kaum eine gemeinsame Basis für einen solchen Diskurs. Weiter erzählte er über die Korruption polnischer Polizisten. Während mich deren Existenz bedrückte, störte ihn hauptsächlich die Zunahme von Kontrollen und damit die Notwendigkeit, die Polizei häufiger zu schmieren. Es tut mir gut, regelmäßig mit so anderen Meinungen konfrontiert zu werden, um mir vor Augen zu führen, dass einerseits sehr viele Menschen anders über Dinge denken als ich und mein enges Umfeld, sie aber andererseits bereit sind, mich mitzunehmen.

Ähnlich wie die Offenheit gegenüber Flüchtlingen und der Ablehnung von Korruption findet auch die Gleichstellung aller Menschen absolute Zustimmung in meinem Umfeld. Dadurch werde ich nur selten mit ungleicher Behandlung oder Diskriminierung aufgrund meines Geschlechts konfrontiert. Beim Trampen wurde mir allerdings bewusst, dass mich im Schnitt in zehn Autos nur eine alleinfahrende Frau mitnimmt, vielleicht drei Autos mit mehreren Insassen und ich in den anderen sechs Autos von alleinfahrenden Männern mitgenommen werde. Das legt eine große Diskrepanz zwischen den Geschlechtern und deren Verhalten auf deutschen Straßen offen. Diese ist zum Beispiel darin begründet, dass es deutlich mehr Männer auf deutschen Straßen gibt und laut einer Shell-Studie von 2013 64,2 Prozent der deutschen PKW von ihnen besessen werden. Weiterhin ist es recht normal, dass Frauen mich beim Trampen bewusst ignorieren. Besonders jene in meinem Alter schauen weg oder verwehren mir merklich zerknirscht eine Mitfahrt. Warum sie sich gegen die Mitnahme einer Fremden so sträuben, erklärten mir einige, meist spontan überzeugte Fahrerinnen damit, dass sie Fremden nicht genug vertrauen würden oder gar Angst vor ihnen hätten. Obwohl unter jungen Frauen aktiv gegen Geschlechterunterschiede gearbeitet wird, scheinen sie sich nicht im selben Maße auf Fremde einlassen zu können wie Männer, selbst wenn es sich dabei um ebenfalls junge Frauen handelt.

Jedes Auto ein andere Realität // Quelle: pxhere.com
Jedes Auto ein andere Realität // Quelle: pxhere.com

Die Vision von geschlechtsunabhängig furchtlosen, freien und offenen Menschen scheint noch nicht in allen Bereichen umgesetzt werden zu wollen oder können, was das energische Auftreten mancher jungen Frau in Diskussionen über die Notwendigkeit der Freiheiten für beide Geschlechter für mich in ein anderes Licht rückt. Während ich und manch andere sich über Nuancen von Sexismus streiten und Verhalten der Geschlechter bewertet wird, haben nicht einmal alle überhaupt ein Bewusstsein für das zugrundeliegende Problem. Mit dem Wissen um diese Ambivalenz wirkt mein eigener Frust über weniger offensichtliche sexistische Anwandlungen manchmal wenig effektiv. Dennoch habe ich auch oft erlebt, dass Fahrerinnen, die ich offensiv vom Straßenrand anlächelte, anscheinend von sich selbst überrascht wendeten und mich einsammelten. Die immer wieder auffälligen Barrieren oder Ängste, die manche Frauen an Dingen hindern, scheinen also mit Offenheit eingerissen werden zu können.

Wenn ich sehe, wie viel ein Lächeln bewirken kann, wenn ich wieder ein neues Auto betrete, erlebe ich regelmäßig eine Art Rausch. Dann verschlinge ich alles, was ich erlebe, was die Fahrer erzählen, und allein die Tatsache, dass Fremde mir bereitwillig ihre Türen öffnen bereichert mich unfassbar. Ein philosophisches Gespräch mit einem Baumkletterer; die Geschichte eines Mannes, den Unterhaltszahlungen in die Privatinsolvenz trieben; die krasse Musikanlage im Auto des stinkreichen Geschäftsmannes; Diskussion über Religion mit Fundamentalisten; Kommunikation ohne gemeinsame Sprache; die Berichte eines Mannes, der 30 Jahre in Indien verbrachte; die Frau, die eigentlich keine Anhalter mitnimmt aber für mich eine Ausnahme macht; ein junger Mann, der planlos reist, und für uns die Richtung anpasst – all das erfasst mich, füllt mich mit neuen, unglaublichen Impressionen und setzt mich mehr oder weniger behutsam wieder in meiner eigenen Realität ab, wo ich versuche alles Neue zu integrieren.

Ich hoffe, dass ich die Fahrer ebenso verzücken und beeindrucken kann. Denn obwohl mir die Homogenität meines Umfelds besonders durch den Kontakt mit anderen Realitäten bewusst wird, sind mir die Grundsatzmeinungen Studierender und der Konsens, der in vielen sozialen Fragen herrscht, wirklich wichtig. So hoffe ich, den Fahrern, die Grenzen ihrer eigenen Perspektive aufzeigen zu können und sie damit zu provozieren, diese zu erweitern, wie sie es bei mir tun.

Autor*in

Studiert seit 2013 Psychologie in Kiel, und frönt dem ALBRECHT seit dem Wintersemester 2014/15, von 2015 bis 2017 als Bildredakteurin und von Januar 2017 bis Januar 2018 als stellvertretende Chefredakteurin.

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