Fliegende Kreaturen, magische Artefakte, märchenhafte Orte – die Bücher meiner Kindheit waren voll mit phantastischen Welten, in denen Magie existierte und seltsame Wesen ihr Leben vollzogen. Und es gab viele Autor*innen, die diese Welten beschrieben und mit Farbe gefüllt haben. Doch was ist, wenn ein*e Phantastik-Autor*in die Vorlage bekommt, ein Kinderbuch zu schreiben, das nichts mit Phantastik zu tun hat? Genau vor dieser Frage stand die erfolgreiche Kinderbuchautorin Cornelia Funke. Daraufhin erschuf sie eine Mädchenbande, die bis heute unvergessen ist: Die Wilden Hühner.

Das sind Sprotte, Frieda, Melanie, Trude und Wilma. Fünf Mädchen aus derselben Klasse, die zusammen in einem Wohnwagen sitzen und Tee trinken. Klingt ziemlich langweilig, oder? Wie schafft es nun eine Autorin, aus diesen Dingen, ohne Magie, Fabelwesen oder Unglaubliches, eine spannende Geschichte zu machen? Cornelia Funkes Antwort darauf kann sich sehen lassen: eine Schatzsuche, Bandenkriege, Klassenfahrten, Diebstähle, Reiterferien und die erste große Liebe. Doch es sind nicht die umfassenden Handlungen, die die fünf Bücher so lesenswert machen.

Statt gegen Drachen und Dämonen kämpfen die fünf Mädchen gegen nervige Jungs, tricksende Lehrer, brutale Väter, fiese Großmütter, aber auch mit ihren eigenen Gefühlen. Egal, ob die Geschwister nerven, die Schule stresst oder sich der erste Liebeskummer seine Bahnen bricht – die fünf Freundinnen halten zusammen und helfen einander.

Der erste von insgesamt fünf Bänden – inklusive einer Adaption – erschien 1993. Die Geschichten sind zeitlos und können auch noch von unseren eigenen Kindern gelesen werden.

Die Wilden Hühner wurden für mich zu treuen Begleiterinnen durch die Grundschulzeit. In diesen Büchern schien es auf jede Frage und jedes Problem eine Antwort zu geben. Ein wahres Kunststück, konnte Cornelia Funke es doch mit ihren unterschiedlichen Charakteren schaffen, jede Situation zu konstruieren, die es im Universum eines Grundschulkindes zu geben schien. Sei es die Scheidung der Eltern, der soziale Abstieg der eigenen Familie, Helikoptermütter, das Leben ohne Vater, die neuen Partner*innen der Eltern oder das Leben mit Geschwistern: Die Wilden Hühner waren einfühlsame und kindgerechte Ratgeber. Vermutlich einer der Gründe für ihren Erfolg.

Doch nicht nur als Ratgeber waren die Bücher erfolgreich: Die fünf Mädchen wurden zu Identifikationsfiguren und Vorbildern. Beim Lesen der Bücher stellte ich mir unwillkürlich die Frage, wer ich selbst wohl in der Geschichte wäre. Bin ich so frech wie Sprotte? So hilfsbereit wie Frieda? So schön wie Melanie? So lieb wie Trude? Oder so mutig wie Wilma? Diese Fragen der Identifikation stellen sich viele Mädchen (und auch Jungen). Wer seine Rolle gefunden hatte, suchte sich die fehlenden Figuren und zusammen wurde dann eine eigene Bande gegründet. Es ist also nicht verwunderlich, dass es bereits mehrere hundert Wilde-Hühner-Banden in ganz Deutschland gibt, laut offizieller Homepage der Autorin.

Was mich an den Wilden Hühnern damals noch mehr faszinierte, war die Freiheit, die sie hatten: Ein Wohnwagen auf einem eigenen Grundstück, das umgeben war von Wäldern und Wiesen. Und alles weit weg von den Erwachsenen. Ein Ort, an dem sie machen konnten, was sie wollten. An dem sie nicht gestört wurden von Eltern, Geschwistern oder Lehrern. Für mich war diese Vorstellung wie das Paradies.

Ein Versteck ohne Erwachsene, spannende Abenteuer, die auch mir selbst passieren könnten, und eine Freundschaft, die einfach alles übersteht. Cornelia Funke erfüllt mit ihren Geschichten jeden heimlichen Wunsch eines Kindes – und auch die mancher Erwachsener.

Autor*in

Merle ist seit Oktober 2017 beim ALBRECHT. Sie studiert Deutsch und Philosophie auf Fachergänzung.

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