Ellerdorf’s calling und über 3 000 Festivalgänger folgen am Freitag dem Ruf. Unter ihnen auch eine stattliche Anzahl von Schnapsdrosseln, die sich an den Sicherheitsvorkehrungen vorbei auf den Campingplatz schleichen, um sich dort gepflegt die Kante zu geben. Der Weg zur Bühne, hier ist er schon am Nachmittag mit Schnapsleichen gepflastert.

Das Festivalgelände selbst zeugt von der Wahrung subkulturellen Charmes. Nicht nur zieren die in einem Waldstück liegenden Bühnen in liebevoller Handarbeit gezimmerte Bretterbauten, Hängematten und Liegen, auch auf bullige Securitys und sonstiges Standardpersonal wird zu Gunsten von Freunden und lokalen Helfern verzichtet. Wie allerdings der 15-jährige Ordner, der gerade wie ein benebelter Tanzbär vor der Elektrostage schwoft, die Sicherheit gewährleisten soll, bleibt eine der ungeklärten Fragen dieses Tages.

Alle Angaben zu Zeiten und Bänds sind natürlich sowieso verkehrt“, hat man vorsorglich ins Programmheft geschrieben. Eine Koketterie mit der eigenen Semi-Professionalität, die gerechtfertigt ist. Die leidige Frage „Ist das jetzt schon die Show oder noch der Soundcheck?“ wird an diesem Tag mehr als einmal bemüht. Das klangliche Ergebnis ist meist so mittel und pünktlich ist eine Band dann, wenn sie dem Zeitplan nur eine Viertelstunde hinterherhinkt. Ungekrönte Könige der Verspätung sind schließlich die geschminkten Psychobilly-Clowns von den Klingonz. Die sind im Stau stecken geblieben und können ihr Set erst mit opulenter Verspätung beginnen. Die nachfolgenden Sendungen verzögern sich um etwa 70 Minuten.

Folglich betreten die Headliner von Atari Teenage Riot erst kurz vor Mitternacht die Bühne. Wenn auch nur, um ihr Elektro-Playback anzuschalten und dann erstmal wieder zu verschwinden. Im Stroboskoplicht wirkt Ellerdorf auf einmal wie die Mayday in den Neunzigern. Als Alec Empire und die zierliche Nic Endo schließlich zu den Mikrofonen greifen und ihre brutal verzerrten Texte in die tobende Menge brüllen, weiß man, wie Scooter klingen würde, wenn H.P. Baxxter einen echt schlechten Tag hätte. „Aggressive radikal-anarchistische Botschaften zu elektronischer Musik“ titelt das Programmheft. Vermutlich zutreffend. „Digitale Fingernägel auf digitaler Tafel” beschreibt die Show aber auch ganz gut.

Letztlich bietet sie aber nur eine moderate Vorschau auf das, was sich im Anschluss beim Auftritt der Kieler Bloodrock-Legende Smoke Blow abspielt. Schon beim ersten Song entfacht sich ein amtlicher Moshpit, in dem schnell unter die Räder kommt, wer sich zuvor eine Mische zuviel genehmigt hat. „No more Mr. Nice Guy“ scheint auch für Frontmann Jack Letten das Motto dieses Abends zu sein; er pöbelt munter gegen das Publikum und seine Mitmusiker. Hauptzielscheibe ist diesmal MC Straßenköter, der nach einer Fußverletzung mit Krücken auf der Bühne steht. Bis zu dem Moment, wo Letten diese für Showeinlagen zweckentfremdet. Während Hymnen wie „Alligator Rodeo“ oder „Police Robots“ über sie hereinbrechen, versuchen die Zuschauer immer wieder die Bühne zu entern. Das Sicherheitspersonal kommt selten hinterher: Kaum verlässt ein Security seinen Platz um für Ordnung zu sorgen, nutzen drei neue Störenfriede die entstandene Lücke. Ein Fan im Ganzkörperhasenkostüm stürmt die Absperrung und wird unsanft hinter die Bühne eskortiert. Ist das gerade wirklich passiert?

Als der Spuk nach gut einer Stunde vorbei ist, bleibt ein komplett zerstörtes Festivalpublikum zurück. Mittlerweile hängt man zwei Stunden hinter dem Zeitplan und auf dem Campground ist es bereits totenstill. Als Supershirt schließlich mit ihrem Elektropop die letzte Runde einläuten, sind am Horizont schon wieder die ersten Sonnenstrahlen zu sehen. Ein reibungsloser Festivaltag mag anders aussehen. Aber memorabler geht es kaum.

Autor*in

Janwillem promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft. Er schreibt seit 2010 regelmäßig für den Albrecht über Comics und Musik, letzteres mit dem Schwerpunkt Festivalkultur.

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