Gebrochene Herzen, Trennungsschmerz und Selbstzweifel – was für einige klingen mag wie die Vorgeschichte eines*r Jugendlichen, der*die kurz davor ist, Teil der Emo-Szene zu werden, stellt in Wahrheit eine kleine Auswahl der Themen dar, welche heute die internationalen Single-Charts dominieren. Ob Billie Eilish, XXXTentacion oder auch der Beatles-Rekorde schlagende Capital Bra und sein Partner in Crime Samra, sie alle stehen für eine Musiker*innengeneration, die uns mit größten kommerziellen Erfolgen ihr Herz ausschüttet. Manchmal wirkt es so, als würde unsere Generation sich von der ‚Wohlfühlmusik’ der 1950er und 60er und der anklagenden Musik der 1970er und 80er abnabeln, um in Selbstmitleid und Trauer zu versinken.

Hören wir wirklich häufiger traurige Musik als unsere Eltern?

Mehrere Studien zeigen, dass sich erfolgreiche Musik in den letzten 60 Jahren stark gewandelt hat. Lior Shamir von der Lawrence Technical University analysierte circa 6000 Texte von Singles, welche es in die Billboard Top 100 schafften. Durch die Anwendung einer textbasierten Analysesoftware ordnete er den einzelnen Titeln dominante Emotionen zu und ermittelte einen Jahresdurchschnitt. Er zeigte, dass die Anzahl der glücklichen Chartsongs pro Jahr im Zeitraum von 1951 bis 2016 massiv gesunken ist. Parallel dazu haben sich die Zahlen aggressiver Songs mehr als verdoppelt. Shamir konkludiert daraus, dass die heutigen Texte deutlich trauriger sind als früher und viel häufiger negative Stimmungen transportieren.

Dabei stellt sich nun die Frage: Sind wir trauriger als die vorherigen Generationen? Die Antwort mag verblüffen, aber ja. Der Arztreport 2018 der BARMER Krankenkasse ergab, dass allein in dem Zeitraum von 2005 bis 2016 die Anzahl an Depressiven in Deutschland um ca. 38 Prozent angestiegen ist. Auch global zeichnet sich ein vergleichbarer Trend ab. So veröffentlichten Forschende der chinesischen Xi’an Jiaotong Universität im letzten Jahr den Aufsatz Changes in the global burden of depression from 1990 to 2017: Findings from the Global Burden of Disease study und wieseneinen Anstieg an depressiv Erkrankten um 49,86 Prozent im Zeitraum von 1990 bis 2017 nach.

Ein Blick in den Spiegel

Musik reflektiert wie jede andere Kunstform die Emotionen, Gefühle und Stimmungslagen des Einzelnen. Sie kann es aber auch Forschenden durch Analysetechniken mit Einschränkungen ermöglichen, Rückschlüsse auf gesellschaftliche Zustände zu ziehen. Zwar nehmen Krisen und Spannungen zwischen den sozialen Gruppierungen nicht zwingend in ihrer Anzahl zu, jedoch erreichen sie uns durch die sozialen Medien zu jeder Zeit. Der davon beeinflusste Zeitgeist wirkt nicht nur auf uns als Konsument*innen, sondern auch auf die Songwriter*innen, welche die Hits von morgen produzieren. Wenn die allgemeine Tendenz andeutet, dass die Menschheit zunehmend negativere Emotionen hegt, dann steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass traurige Tracks den Weg in unsere persönlichen Playlisten finden.

So bestätigt eine Studie der Kulturforschenden Charlotte O. Brand, Alberto Acerbi und Alex Mesoudi, dass in der heutigen Zeit die Wahrscheinlichkeit deutlich höher ist, mit einem traurigen Song in die Charts einzusteigen, als es früher der Fall war. Damit stellen sie die Theorie in den Raum, dass negative Kunst grundsätzlich populärer ist, weil Kunst die Funktion haben kann, adaptierend soziale Emotionen zu simulieren. Zum Beispiel kann uns der Top-Ten-Rapper Tua in seine Welt mitnehmen und uns miterleben lassen, wie es ist, seinen Vater zu verlieren.

Gemeinsam alleinsam

Außerdem zeigen traurige künstlerische Werke auch, dass wir mit unseren Erlebnissen und Gefühlen nicht alleine sind. Andere Menschen haben auch Ähnliches erlebt. Manchmal schaffen es Künstler*innen, Emotionen auf den Punkt zu bringen, für die uns die Worte fehlen. Dadurch bieten sie eine Auseinandersetzung mit unserer seelischen Welt, die nicht auf die Interaktion mit anderen Menschen angewiesen ist. In ihr finden wir eine stumme, begleitende Entität, oder wie es Simon & Garfunkel sagen würden: „Hello darkness, my old friend / I´ve come to talk with you again“.

Der kommerzielle Aufstieg der traurigen Songs kann auch für eine positive Entwicklung stehen. Denn die Tatsache, dass traurige Nummern zunehmend die Verkaufslisten anführen, kann auch andeuten, dass wir uns als Hörerschaft mehr mit unseren eigenen Gefühlen beschäftigen, Lebensereignisse verarbeiten und aus dem Hören Kraft ziehen. So gesehen beschert melancholische Musik nicht nur den Künstler*innen die eine oder andere Goldplatte an der Wand: Nein, sie kann auch für uns Balsam für die Seele sein und einen unschätzbaren persönlichen Wert einnehmen.

Autor*in

Nikita ist seit dem Wintersemester 2019/2020 mit am Board. Als Fotograf bereichert er die Ausgaben & Artikel und dokumentiert regelmäßig Ereignisse am Campus. Gelegentlich schreibt er Artikel zu diversen sozio-kulturellen Themen.

Share.
Leave A Reply