Stell Dir vor, ein veganes Café eröffnet, und alle gehen hin:

Haben die Kieler Studierenden tatsächlich so wenig Geld in der Tasche, dass sie für ein gratis Stück Kuchen fast eine Stunde lang in der klirrenden Kälte stehen bleiben? Oder ist dieses vegane Café genau das, wonach sich halb Kiel seit Jahren gesehnt hat? Die Menschenschlange, die sich am Sonntag der Eröffnungsfeier an der Ecke von Holtenauer und Esmarchstraße bildete, sprach jedenfalls Bände. Schon im Vorhinein waren die Zusagen bei facebook durch die Decke gegangen – bis zum entscheidenden Tag hatten 427 Leute fest zugesagt und weitere 1413 immerhin ihr Interesse bekundet, vorbeizukommen. Wie viele tatsächlich da waren, wurde jedoch nicht gezählt. „Ich habe einfach nur in der Küche gestanden und Burger gebraten wie ein Verrückter“, erzählt Vincent, der das Blattgold gemeinsam mit seiner Freundin Lena eröffnet hat. Denn letztendlich wollten die Besucher doch nicht nur Kuchen abstauben – viel gespannter waren viele auf die fleischlosen Buletten. Einen Vorgeschmack gaben bereits die Schnittchen mit sogenanntem ‚Fleischsalat‘, die als „kleiner Gruß aus der Küche“ an die Wartenden verteilt wurden. „Lecker“ und „sehr nah dran am Original“, lautete das allgemeine Urteil.

Die Idee, ein veganes Café zu eröffnen, hatte Vincent „eigentlich schon immer“. Als er sich vor elf Jahren gemeinsam mit einem Kumpel entschied, seine Ernährung auf rein vegane Produkte zu beschränken, betraten sie gesellschaftliches Neuland. Zum Einkaufen mussten sie ins Reformhaus fahren, es gab keine hochwertigen Ersatzprodukte, geschweige denn entsprechende Gastronomie. „Damals wäre es Selbstmord gewesen, so einen Laden aufzumachen“, sagt er. Erst vor ein paar Jahren hat sich ein neues Bewusstsein unter den Verbrauchern entwickelt. Inzwischen kaufen viele Deutsche vermehrt wieder regional und biologisch ein oder versuchen, ihren Fleischkonsum zu reduzieren. Auch der Anteil derjenigen, die komplett auf tierische Produkte verzichten, ist stark angestiegen. Einen großen Beitrag dazu hat laut Vincent der Autor Attila Hildmann geleistet. Mit seinen Bestseller Kochbüchern wie Vegan for Fun habe er den Veganismus salonfähig gemacht.

Auch Lenas Bruder ist unter den vielen Bekannten der Blattgold-Gründer, die zur Eröffnung mithelfen, vegane Leckereien zu verteilen.

Vincent weiß, wovon er redet, wenn es um die Vorteile veganer Ernährung geht. Das Thema ist seine Herzensangelegenheit, seit Langem beschäftigt er sich damit. Für pflanzliche Produkte müsse nicht nur niemand sterben, sie seien auch umweltfreundlicher und somit „in jeglicher Hinsicht besser“, ist der Blattgold-Inhaber überzeugt. Mehrere Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass die weltweit wachsende Massentierhaltung weit mehr Treibhausgase verursacht, als alle Abgasemissionen zusammengenommen und somit eine der Hauptursachen des Klimawandels ist. „Irgendwann wird eine Argumentation für den Fleischkonsum nicht mehr zu halten sein“, lautet deshalb seine Schlussfolgerung.

Eigentlich ist Vincent gelernter Tontechniker. Der 29-jährige stammt aus Kiel, studierte jedoch in Berlin, ging später für ein Praktikum in die USA und zog anschließend zu seiner Freundin nach Mannheim. Doch während der anderthalb Jahre, die er dort arbeitete, sei ihm die „Sinnlosigkeit“ seines Jobs klargeworden. Statt seine Karriere zu verfolgen, entschied er sich, die Welt ein bisschen besser machen zu wollen.

Begonnen haben er und Lena vor anderthalb Jahren mit einem Marktstand auf dem Exerzierplatz, um sich örtlich nicht gleich binden zu müssen. „Unser Ziel war es vor allem, das Einkaufserlebnis für Veganer zu normalisieren.“ Neben veganem Kuchen und Gebäck gab es deshalb unter anderem auch Steaks oder aus Nudeln und Kichererbsen bestehenden ‚Eiersalat‘ im Angebot. Durch Vieles mussten sich die zwei selbst erst einmal durchprobieren. „Wir verkaufen wirklich nur das, wovon wir selbst überzeugt sind“, erklärt Vincent. Viele vegane Produkte würden eher Negativ-Werbung für diese Ernährungsweise machen – das wollten sie ändern. Erstes Gebot sei deshalb hohe Qualität und ein entsprechendes Geschmackserlebnis. Das überzeugt auch die Käufer. Viele Stammkunden jeden Alters haben Vincent und Lena inzwischen. Die meisten von ihnen sind selbst gar keine Veganer, sondern Leute, die auch so versuchen wollen, ihren Fleischkonsum zu reduzieren.

Von den klischeehaften Hipstern mit Vollbart und Jutebeuteln fehlt somit auch bei der Eröffnungsfeier jede Spur. Stattdessen ist es der Durchschnittsstudent, der bei Minusgraden fast eine Stunde lang ansteht. „Ich finde es toll, dass es nun in Kiel ein Café gibt, in dem wirklich alles vegan ist und ich mir keine Gedanken machen zu brauche, wo die Produkte herkommen“, sagt Leonie, die selbst lange Zeit Vegetarierin war. Die meisten sind wie sie und ihr Freund aus Neugierde hier und auch, um mal etwas Neues auszuprobieren. „Dass das so durch die Decke geht, konnten wir auch nicht ahnen“, sagt Vincent im Nachhinein und ist immer noch überwältigt. In die Schlange hätte er sich selbst aber nicht eingereiht. Schließlich wird das Blattgold von nun an sechs Tage die Woche geöffnet haben – genug Zeit also, sich selbst ein Bild zu machen.

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