Oma wird 80, das passiert jetzt schon zum zweiten Mal. Diese Oma kann aber mich und meinen Vater noch auseinanderhalten – ist ja auch etwas einfacher, wenn es Enkel und Schwiegersohn sind. Auch im hohen Alter soll man sich was gönnen, sich selbst auch mal Geschenke machen. Deshalb gabs also dieses Jahr eine neue Hüfte – echt Titan oder so, sozusagen die S-Klasse unter den künstlichen Körperteilen. So etwas in der Art hat ein Arbeitskollege meines Vaters auch mal fallen gelassen – bei BMW. Aber zuerst die Umstände: Weil Oma 80 wird, fahren wir essen. Wir, das sind Opa (84), Oma (80), mein Vater (63), meine Mutter (53) und ich (24). Es geht in eine nettes kleines Lokal am Wasser, meine Mutter holt ihre Eltern aus ihren Vorortsmietskasernen ab, während ich mich mit meinem Vater verabrede und schon früher zum Lokal fahre. Es ist 18.58 Uhr, mein Vater parkt das Auto auf dem Parkplatz und wir gehen rein. Der bestellte Tisch gefällt meinem Vater nicht, also wechseln wir hin und her, bis einer der freien Plätze ihm zusagt. Während der 37 Minuten, die wir beide auf Ehefrau und Schwiegereltern beziehungsweise Mutter und Großeltern warten, können wir über Gott und die Welt reden. So also auch über die wilden 90er in Kiel, der Stadt, in der damals so viel los war, dass mein Vater partout nicht nach München ziehen wollte. Immerhin habe ich so erst mit 18 gelernt, wie gutes Bier schmeckt, meine Tränen könnten einen Kasten Beck’s auffüllen – danke Papa! Zurück also zum Kollegen. Der musste CAD-Zeichensoftware vertreiben. Damit kann man Bauelemente designen und auch Krafteinflüsse simulieren. Da die Software also so gut war, wurde sie direkt auch bei BMW vorgestellt. Warum die damals die „S-Klasse“ nicht haben wollten, ist mir schleierhaft.

Endlich erreichen Oma und Opa das Lokal, meine Mutter ist auch dabei, sichtlich genervt. Aus dem Mantel helfen, Stuhl vorziehen, nett lächeln, die Krücken in die Ecke stellen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Der Kellner kommt mal wieder vorbei und wüsste gerne, was wir denn trinken. Mein Großvater antwortet „Das Wiener Schnitzel, bitte“. Ich blicke meinen Vater an.

Kurz bevor das Essen kommt beschwert sich mein Großvater über die Geräuschkulisse. Es ist wirklich etwas laut im Lokal, zwei Gruppen sind um uns herum an Tischen. Sie bestehen aus Damen im Ruhestand, die sich angeregt über Enkelkinder unterhalten. Mein Großvater ist sonst der, der den Ton und die Lautstärke angibt. Ohne Hörgerät im Ohr muss ihm dieser Abend vorkommen als säße er in einem Goldfischglas, alle Geräusche sind leicht gedämmt, aber das Schnattern zu beiden Seiten ist immer noch akuter als das Gespräch an seinem Tisch. Insgesamt ist der Abend wenig witzig, das Essen ist gut, das Schnitzel leider nicht in Butterschmalz gebraten und so etwas zu bitter – dazu reicht man Preiselbeergelee und Bratkartoffeln. Schade, aber verzeihlich, immerhin serviert hier oben kaum jemand Schnitzel mit Speckkartoffelsalat, wie es sich gehört. Im Gegensatz zu sonst, fallen seitens meiner Großeltern wenige Parolen, die auch Frauke Petry unterschreiben würde, die Hüftoperation ist momentan wichtiger als die feindliche Übernahme des christlichen Abendlandes durch „Muselmanen“ und deren Moscheen. Ob sich die Römer anno dazumal wohl auch so sehr gewehrt haben, als die ersten Badehäuser und Tempel zu Kirchen wurden?

Ich will wirklich nicht sagen, dass mir meine Großeltern fremd wären, aber mit den Jahren habe ich immer größere Probleme mit ihnen. Früher war die Kommunikation sehr zweckorientiert, ich wurde früh morgens von meiner Mutter bei ihrem Vater, der in Frührente war, abgeliefert und verbrachte dort den Tag. Gegen 17.00 Uhr holte meine Frau Mama mich dann ab, kam noch kurz auf eine Tasse Tee herein, wenn ich Glück hatte, verspätete sie sich und ich konnte noch die Simpsons gucken, zuhause durfte ich das nicht. Zuhause gab es auch nie Magnum. Ich liebte, liebe und werde Magnum-Eis immer lieben, Magnum war meine Droge, Opa mein Dealer. Zwischen Bringen und Holen artikulierte ich meine Wünsche und bekam fast immer, was ich wollte. Opa diskutierte zwar, wenn er eine Idee für hanebüchen hielt, aber wir fanden meist einen Konsens. Rechne ich alle leckeren Mahlzeiten, Lego-Sets, Eise und Buchgeschenke zusammen, kann ich mir im Nachhinein nur in den Hintern beißen, dass ich als kleines Kind so große Probleme mit Zischlauten hatte, dass ich „Porsche 911, 79er Baujahr“ nie verständlich über die Lippen gebracht hätte. Heute ist die Kommunikation nur selten einfach. Besuche ich meine Großeltern, so gibt es leider wenige Themen, über die wir angeregt reden können. Dass mein Studium bisweilen Längen aufweist, ist etabliert. Dass ich plane, einen Abschluss in Deutsch zu machen, ohne ein Seminar zu Goethe, Herder, Schiller oder Wieland zu besuchen, stößt meinem Opa immer noch übel auf (immerhin wohnen meine Eltern doch am Schrevenpark in der Wielandstraße!), meine Oma hält es für ein Kavaliersdelikt. Und Privates, wie meine Oma diesen Sommer meinte, als ich etwas andeutete, „Sowas macht man mit sich selbst aus.“ Viele der Lebensweisheiten, die Großeltern in Filmen immer zu liefern haben, nehme ich nicht mit. Nichtsdestotrotz fühle ich mich den beiden sehr verbunden, immerhin sind sie meine Großeltern, das zählt etwas. Hinter all dem Zynismus, mit dem ich die beiden bisweilen betrachte und ihrem Verhalten lorioteske Züge andichte, so bin ich doch froh, an sie denken zu können, ohne ihrer gedenken zu müssen.

Opa hat Mama dann gebeten, für seinen Geburtstag einen Tisch im selben Lokal zu reservieren; dann kann er wieder Trollinger essen und Wiener Schnitzel trinken.

Bildquelle: Wikimedia Commons

Autor*in

Paul war seit Ende 2012 Teil der Redaktion. Neben der Gestaltung des Layouts schrieb Paul gerne Kommentare und ließ die Weltöffentlichkeit an seiner Meinung teilhaben. In seiner Freizeit studierte Paul Deutsch und Anglistik an der CAU.

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