Zivile Seenotrettung auf der Zentralen Mittelmeerroute: Der CAU-Alumni und Sea-Watch 3-Aktivist Hove Thießen im Interview

Dieses Jahr sind bereits 636 Menschen bei der Flucht auf dem Mittelmeer ertrunken. Diese Zahl, so erschreckend sie sein mag, kann kaum das Leid derjenigen ausdrücken, die als letzten Ausweg die Flucht über das Mittelmeer antreten. Einige Schiffe nichtstaatlicher Organisationen haben es sich deswegen zur Aufgabe gemacht, auf dem Mittelmeer Geflüchtete in Seenot zu retten. Sie nehmen die Schiffbrüchigen auf, leisten medizinische Erstversorgung und bringen die Menschen sicher an die Grenzen Europas. Zu diesen nichtstaatlichen Organisationen gehört auch ein Schiff des deutschen Vereins Sea-Watch. Teil der Besatzung ist Aktivist Hove Thießen, der hier im Interview mit dem ALBRECHT über seine Erfahrungen auf der Sea-Watch 3 berichtet. Der gelernte Schiffsmechaniker hat sich dem Verein nach seinem Geographie-Studium an der CAU im Oktober 2017 angeschlossen. Zurzeit agiert die Sea-Watch 3 auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Libyen und Italien.

Die Zentrale Mittelmeerroute
Die Zentrale Mittelmeerroute

DER ALBRECHT: Wie genau läuft eine Rettung ab, wenn ihr ein Boot mit Geflüchteten geortet habt?

Hove: In der Regel informiert uns die offizielle Rettungsbehörde in Rom (MRCC) über Boote von Geflüchteten in Seenot. Wenn das Schiff noch schwimmt, versuchen wir, so ruhig wie möglich heranzufahren und lassen dann kleinere Rettungsboote raus und verteilen Schwimmwesten. Es befindet sich auch immer ein Cultural Mediator, der arabisch spricht, auf dem Rettungsboot. Das ist wichtig, damit wir klar machen können, dass wir nicht da sind, um die Menschen zurück nach Libyen zu bringen. Nach der Rettung bringen wir die Menschen nach Italien, wo es ein Erstaufnahmelager gibt und auch andere Nichtregierungsorganisationen vor Ort sind.

Wie erlebst du die Menschen, wenn sie an Bord kommen?

Alle sind mehr oder weniger stark traumatisiert. Die meisten stehen akut unter Schock, weil sie nicht damit gerechnet haben, dass sie so lange auf dem Wasser treiben würden. In der Regel wird ihnen gesagt, dass es nur ungefähr zwei Stunden bis Italien sind. Das Benzin reicht für die Überfahrt überhaupt nicht aus. Außerdem verlieren die Schlauchboote irgendwann Luft und gehen unter. Selbst wenn die Boote nicht untergehen, sterben Menschen darauf: dadurch, dass sie einen Hitzeschlag erleiden; dadurch, dass sie Schwächeanfälle bekommen und einfach von Bord fallen. Oder dadurch, dass Menschen in den unteren Decks ersticken, wenn die Boote mehrere Decks haben. Viele Frauen erleben während der Flucht sexualisierte Gewalt. Insgesamt ist nicht nur die Überquerung des Mittelmeeres, sondern die gesamte Fluchterfahrung, die bis zu drei Jahren dauern kann, extrem traumatisch.

Auf welche Art kann den Menschen schon an Bord geholfen werden?

Wir tun, was wir können. Wir können keine psychologische Erstbetreuung leisten, aber eine medizinische. Wir sind so ausgestattet, dass wir den Menschen trockene Kleidung geben können –̶ oder überhaupt Kleidung, falls sie keine haben. Außerdem verteilen wir Decken und Essen. Vielleicht hilft es bereits, ihnen ein Stück würdevoller zu begegnen. Auf dem Weg nach Sizilien haben wir diese Menschen dann zwei Tage lang als Gäste an Bord. Für Frauen und Kinder haben wir einen eigenen Raum. Die Männer bringen wir an Deck unter.

Sea-Watch 3Sind viele Frauen und Kinder unter den Geflüchteten?

Sehr viele Frauen und Kinder gibt es nicht. Viele Frauen sind bei der Rettung schwanger, sodass schon mal unterwegs ein Baby geboren wurde. Bei einer der Rettungen, bei der ich dabei war, waren ungefähr fünf bis sechs Kinder unter den Geflüchteten. Bei einer anderen Rettung hatten wir ein ertrunkenes Kind an Bord, das nicht wiederbelebt werden konnte.

Wie lange kannst du diese Arbeit noch machen?

Ich weiß es nicht. Ich befürchte, ich könnte einen Punkt erreichen, an dem ich nichts anderes mehr machen kann. Ich glaube nicht, dass das besonders erstrebenswert ist. Ehrlich gesagt überlege ich mir jedes Mal, bevor ich zurück zum Schiff fahre, ob ich das gerade machen kann und will.

Hast du Verständnis für Leute, die sich dieser Situation auf dem Mittelmeer entziehen?

Ja, ich kann das verstehen. Das ist auf jeden Fall eine Thematik, die viele Leute sehr schnell überfordern kann und die auch mich schnell überfordert. Allein schon durch ihre Komplexität, die nur sehr vage und sehr abstrakt zu begreifen ist. Ich glaube, den meisten Leuten ist gar nicht klar, was genau die Verstrickungen sind und inwiefern wir selbst sowie die Politik in unserem Land dafür verantwortlich sind, dass Menschen fliehen müssen. Das ist eine Sache, die sehr gerne verdrängt wird. Und auch kollektiv in Deutschland verdrängt wird.

Diese Menschen machen sich mit einer unglaublichen Hoffnung auf den Weg und werden im Endeffekt schwer enttäuscht. Meinst du, sie würden sich trotzdem auf den Weg machen, wenn sie wüssten, wie schwer dieser Weg ist?

Wenn man von Flucht spricht, dann geht man davon aus, dass es keine andere Wahl gibt. Die Alternative zur Flucht ist der Tod. Oder möglicherweise Gefangennahme, Folter oder ähnliches. Das Wort Flucht impliziert eine Alternativlosigkeit. Das gilt auch für die sogenannte Flucht aus ökonomischen Gründen: Wenn du verhungerst, weil du dir nichts zu essen kaufen kannst, dir dein Land weggenommen wurde, es eine Umweltkatastrophe gab oder der Fluss, der deine Lebensgrundlage bildet, wegen Ölbohrungen verschmutzt wurde. Auch dann ist es eine Flucht ohne Alternative.

Wie fühlst du dich von der EU wahrgenommen?

Angesichts der Tatsache, dass zwei andere Rettungsorganisationen durch die italienischen Behörden festgenommen und deren Schiffe beschlagnahmt wurden, fühle ich mich von der EU sehr allein gelassen. Es sollte die Pflicht der EU sein, fliehende Menschen zu retten, anstatt sie im Stich zu lassen. Ich mache diese Arbeit bestimmt nicht gern, sondern ich mache sie, weil ich sie als notwendig erachte. Und weil ich es nicht aushalte, dass sie nicht gemacht wird.

Flüchtlinge schwimmen im Wasser vor einem sinkenden Schlauchboo

Wenn die EU nicht dazu beiträgt, dass Menschen sicher das Mittelmeer überqueren können, was passiert stattdessen?

NGOs werden kriminalisiert und es wird eine libysche Miliz organisiert, die als „Küstenwache“ agiert und im Auftrag der EU Pullbacks durchführt. Pullbacks bedeutet, die Schlauchboote der Geflüchteten abzufangen und wieder zurück nach Libyen zu bringen. Damit die Menschen dann weiter in libyschen Lagern allein gelassen und möglicherweise versklavt und gefoltert werden. Das heißt, die EU koordiniert völkerrechtswidrige Pullbacks – völkerrechtswidrig deswegen, weil es im internationalen Seerecht verankert und völkerrechtliche Bestimmung ist, schutzsuchende Menschen zu retten und in einen place of safety zu bringen. Stattdessen werden diese Menschen nach Libyen gebracht und von dort weiter in Länder abgeschoben, die wir hier nicht als sichere Herkunftsländer betrachten würden. Die EU verstößt also gleich doppelt gegen Menschenrechte.

Wenn bereits andere Rettungsorganisationen Probleme mit den italienischen Behörden gehabt haben, was bedeutet das für Sea-Watch?

Wir machen weiter wie gehabt. Wenn uns die italienischen Behörden, aus welchen Gründen auch immer, einen Strick drehen wollen, dann werden wir dagegen angehen. Wir werden weiter vor Ort sein. Auch wenn die Migration zahlenmäßig scheinbar abgenommen hat, was im Endeffekt an den Pullbacks liegt. Wir agieren auch als Beobachter und Berichterstatter vor der libyschen Küste. Es kann nicht sein, dass die EU meint, sie könne ihre Außengrenzen nach Libyen verlagern, damit weniger Menschen nach Europa migrieren.

Wie hat dich die Arbeit auf der Sea-Watch 3 verändert?

Ich bin auf jeden Fall für die politischen Verhältnisse an Europas Außengrenzen sensibilisiert worden. Und ich würde sagen, meine Meinung hat sich zunehmend radikalisiert. Durch die Dinge, die ich erfahren habe, die Dinge, die ich miterlebt habe und mit denen ich mich durch Sea-Watch intensiver auseinander gesetzt habe. Ich traue mich jetzt mehr meine Meinung zu sagen.

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Disembarkation: Gerette Menschen verlassen die Sea Watch 3

Was möchtest du den Menschen an der Universität mitgeben?

Ich würde gerne allen Menschen, besonders denen an der Uni, mitgeben, dass man sich nicht einlullen lassen darf von einer gesellschaftlichen Stimmung, die sagt „wir haben schon zu viele Menschen aufgenommen“ oder „man müsste was gegen die Fluchtursachen tun“, aber nichts gegen Fluchtursachen unternimmt. Ich würde den Menschen gerne mitgeben, dass sie sich viel kritischer mit Deutschland und der EU auseinandersetzten sollten. Es ist wichtig, dass viel mehr darauf gepocht wird, dass Politik sich wieder nach Menschenrechten richtet und diese Thematik nicht einfach aushöhlt, um sich selbst zu erhalten. Vielleicht sollte man sich auch einfach eingestehen, dass das europäische Grenzsystem menschenverachtend ist. Das ist leider so. Take it.


Akteure und Hintergründe

Sea-Watch e.V.: Der Verein hat sich im Jahre 2014 als Initiative von Freiwilligen gegründet, die nicht mehr ertragen konnten, dass so viele Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer umkommen. Auf der aktuellen Mission, die seit November 2017 läuft, agiert die Sea-Watch 3 auf der zentralen Mittelmeerroute und patrouilliert von Ost nach West 25 Meilen vor der Libyschen Küste. Die Crew von 20 bis 22 Personen bleibt für zwei bis drei Wochen auf dem Schiff, bevor ein Wechsel stattfindet, da ein dauerhafter Einsatz zu belastend wäre.

Libysche Küstenwache: Die Einsätze werden von der EU koordiniert. Die Aufgabe der Küstenwache besteht darin, Menschen auf der Flucht abzufangen und zurück nach Libyen zu bringen. Das Abkommen mit der libyschen Küstenwache ist stark umstritten, da die politische Lage in dem nordafrikanischen Land sehr instabil ist. Außerdem berichten Menschenrechtsorganisationen von Vergewaltigungen, Folter und willkürlichen Erschießungen. Sea-Watch wirft der EU vor, durch das Abkommen das international gültige Zurückweisungsverbot zu umgehen.

Zentrale Mittelmeerroute: Nach einer Studie der Internationalen Organisation für Migration handelt es sich um die weltweit gefährlichste Fluchtroute.


Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung der Sea Watch 3 NGO

Autor*in

Janina ist seit April 2017 Teil der Redaktion und studiert Psychologie an der CAU.

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