Arno Schmidt ist schon fast mit dem Mittagessen fertig, als ich um Viertel nach Zwölf die Mensa 1 betrete. Er sitzt meist ganz vorne in der Nähe der Kassen und widmet sich auch heute seiner obligatorischen Quarknachspeise. Viermal die Woche isst er je nachdem, wie sein Terminkalender es zulässt, in der Mensa und klönt eine Runde mit dem Personal und den Professoren. Wie fast jede Woche sind wir auch an diesem Dienstag zum ‚Mensen‘ verabredet.

Herr Schmidt lässt sich zu Recht als ein Urgestein der Christian-Albrecht-Universität zu Kiel bezeichnen, feierte er doch nicht nur im letzten Jahr das 350-jährige Bestehen der Uni, sondern auch bereits die 300-Jahr-Feier 1965 mit. Herr Schmidt erinnert sich gerne an diese Zeit zurück. „Damals“, so erzählt er mir, „zogen Studenten und Professoren in den jeweiligen Talaren ihrer Fakultäten durch die ganze Stadt. Sie trugen Fackeln bei sich und boten einen spektakulären Anblick.“ Der 1933 geborene, ehemals technische Angestellte der Uni nimmt einen häufig auf solche Reisen in die Vergangenheit mit. Dass sich auf dem Unigelände früher einmal etliche Schrebergärten befanden und die Straßenbahn direkt bei dem Auditorium Maximum ihre Endhaltestelle hatte, wissen heute wohl nur wenige Studenten. Oder wer hat noch mitbekommen, dass in der alten Mensa weiße Tischdecken und Blumenvasen die Atmosphäre bestimmten, während Kellner die Bestellungen entgegennahmen? Doch nicht nur die Hochschule ist Gespräch in der Mensa. Die Mittagspause mit Arno Schmidt wird schnell zu einem bunten Potpourri aus Geschichtsstunde, Computerfachsimpelei, politischer Diskussionsrunde und der Analyse des besten Mittagsgerichts.

Seit 15 Jahren befindet sich Arno Schmidt im Ruhestand. Bis zu seiner Rente arbeitete er als technischer Angestellte der CAU und leistete Pionierarbeit im Umgang mit den ersten Rechenmaschinen der 1950er Jahre. „Bevor ich an die Universität ging“, berichtet er mir zwischen Fisch und Nachtisch, „war ich bei ELAC, einem ehemaligen Rüstungsunternehmen, dass nach dem Krieg vor allem Echolote, Plattenspieler und Hörgeräte gebaut hat. Ich arbeitete in der Unterwasserschalltechnik.“ Doch an der Universität, die sich in der gleichen Straße wie das Unternehmen ELAC befand, fand Herr Schmidt eine neue Leidenschaft: Die Rechenmaschine Zuse 22.

1957 kam der renommierte Kernphysiker Professor Bagge unter der Bedingung nach Kiel, ein eigenes Institut mit eigener Rechenmaschine zu erhalten. In den Gebäuden am Westring/Ecke Olshausenstraße entstand daraufhin ein Ort der Lehre, Wissenschaft und Innovation. Und ein Ort der Hitze. Arno Schmidt erinnert sich an den Aufbau der heißlaufenden Maschinen, die den ganzen Raum füllten und es Studenten, Professoren und technischen Angestellten zeitweise unmöglich machten, weiterzuarbeiten. Zur Abhilfe, so erklärt er mir, bauten sie riesige Lüfter vor die Fenster, die ihnen zwar Kühlung, aber auch Lärmbelästigungsbeschwerden zahlreicher umliegender Institute einbrachten. Später dann, als die Zuse veraltet und ausgemustert war, wurde sie dem Computermuseum am Ostufer zur Verfügung gestellt, bei dessen Zusammenstellung Herr Schmidt mitgewirkt hat. Noch heute kann man ‚seine‘ Zuse im Museum (Bunker Eichenbergskamp) bewundern.

Während er mir von den Tücken der Zuse 22 erzählt, stehen wir auf und bringen unsere Tabletts zur Geschirrrückgabe. Wie immer wird kurz mit dem Mitarbeiter Herrn Richter geplauscht, ehe wir dann in das Café des Mensagebäudes gehen, um einen Espresso zu trinken. Bevor ich ihn weiter nach Eckdaten für dieses Portrait frage, tauschen wir uns über das vergangene Wochenende aus. Wenn Arno Schmidt anfängt, von seinen Freizeitaktivitäten zu erzählen, bin ich immer wieder sprachlos. Herzsportgruppe, Nordic Walking, Schwimmen mit der Enkelin, Seniorengymnastik, Fahrrad fahren, wissenschaftliche Vorträge sowie Mittagskonzerte und Aktivitäten in der Gemeinde – daneben kann man sich nur faul fühlen.

Sein Leben wird auch jetzt im Ruhestand, der im Falle von Herr Schmidt nicht viel mit Ruhe zu tun hat, von einem schier unbändigen Hunger nach Wissen, Gemeinschaft und Bewegung bestimmt. Sein großes Netzwerk an Freunden und Bekannten pflegt er ebenso wie die familiären Beziehungen. Im Rechenzentrum der Uni und bei Vorträgen im Computermuseum ist er nach wie vor ein gern gesehener Gast.

Wer glaubt, dass diese Aktivität erst im Ruhestand angefangen hat (getreu dem Motto „Rentner haben nie Zeit“), liegt falsch. Denn auch schon in den Sechziger Jahren reichte ihm ein Job nicht. Auf die Frage, ob er als alleinerziehender Vater zweier Söhne nicht schon genug um die Ohren gehabt hätte, antwortet er nur lächelnd: „Eigentlich wollte ich gerne Medizintechnik lernen, aber diesen Studiengang gab es damals noch nicht. Ich habe mich immer schon sehr für Operationen und deren Technik interessiert.“ Und so begann Herr Schmidt, der auch leidenschaftlicher Hobbybastler ist, im Jahre 1967 seine Ausbildung zum Krankenpfleger. Neben dem Faible für Technik leitete ihn auch der christliche Gedanke der Nächstenliebe zu diesem Entschluss. Sein fachliches Interesse berücksichtigend, nahmen ihn die Ärzte unzählige Male mit in die Operationssäle. Die Universität unterstützte seine Pflegerausbildung und gewährte während dieser Zeit Freistellungen.

Nach Beendigung der Ausbildung arbeitete der technische Angestellte und Hobbyfotograf am Wochenende im Sankt Elisabeth Krankenhaus. „Für mich war das kein Stress. Man muss sich ja irgendwie beschäftigen!“, lacht Herr Schmidt, als er mein ungläubiges Gesicht sieht und tunkt seinen Amarettini in den Espresso.

„Weißt Du, Johanna“, sagt der 83-Jährige bei der Verabschiedung, „im Leben geht es immer um Bewegung. Du kannst nicht stehen bleiben, dann lässt alles nach. Der Kopf, die Organe, einfach alles.“ Der 1,60 Meter große Mann erhebt sich, verspricht mir, nächstes Mal ein Gerät zur Erleichterung  für das Einwecken mitzubringen, und verabschiedet sich.

Ich trinke meinen Kaffee aus und schaue über meine Notizen. 45 Jahre an der Universität und nun schon seit 15 Jahren regelmäßiger Mensa-Täter. Hier habe ich ihn vor einem Jahr kennengelernt, als er allein in der Mensa saß und ich allein in der Mensa saß. Heute bin ich um einiges reicher an Wissen über die Universität und das Leben eines Mannes, der während des Krieges aus Litauen geflohen ist und seitdem eines der bemerkenswertesten Leben führt, von denen ich je gehört habe. Man weiß eben nie, wohin es führt, wenn man beim Essen nicht Candycrush spielt, sondern einfach den Sitznachbarn fragt: „Sind da heute etwa Heidelbeeren auf der Quarkspeise?“

Autor*in

Johanna schreibt seit Anfang 2015 vornehmlich für das Ressort Gesellschaft. Seit Februar 2017 ist sie Chefredakteurin des ALBRECHT. Sie studiert seit dem Wintersemester 2014 Deutsch und Soziologie an der CAU.

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