Als ‚Systemsprenger‘ werden Menschen bezeichnet, die sich aufgrund besonderer Verhaltensauffälligkeiten nur schwer oder gar nicht in Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe integrieren lassen. Nora Fingscheidt erzählt in ihrem Langfilmdebüt von solch einem Kind. Die alleinerziehende Mutter ist von den Wutausbrüchen ihrer neunjährigen Tochter so überfordert, dass das Jugendamt sie unterstützen muss. Weil Benni, die eigentlich Bernadette heißt, immer nur zurück zu ihrer Mutter möchte, scheint jede neue Pflegefamilie, Wohngruppe oder Sonderschule von Beginn an zum Scheitern verurteilt zu sein.

Endlich hat Nora Fingscheidts Berlinale-Hit einen regulären Kinostart erhalten. Sieben Monate nach der Premiere schaue ich SYSTEMSPRENGER noch einmal. Obwohl mir Story, Figuren und weitere Informationen zum Film bereits bekannt sind, trifft mich die Geschichte wieder vollkommen unvorbereitet. Dieser Umstand beruht nicht auf der Grundlage eines besonders innovativen Drehbuches, teilweise erinnert SYSTEMSPRENGER sehr stark an Xavier Dolans Mommy aus dem Jahr 2014. Während die Analogie zu Dolans Werk in Schlüsselsequenzen einen leicht bitteren Nachgeschmack hinterlässt, sind die irrationalen Entscheidungen einiger Figuren in SYSTEMSPRENGER zu verzeihen, denn sie dienen nicht wie im Horrorfilm einzig dazu die Geschichte voranzutreiben.

Die Handlungsentscheidungen der Figuren innerhalb der filmischen Welt sind plausibel. Obwohl die audiovisuelle Erzählinstanz – und somit auch das Kinopublikum – größtenteils bei der Protagonistin verbleibt: Rennt Benni weg, wackelt das Bild, erleidet sie eine Wutattacke, flackert die Leinwand von rosa über rot (ähnlich Bennis Kleidung), bis alles schwarz und schlussendlich in einem überstrahlten Flashback oder einer Phantasie endet. Der Film lässt es offen, ob die flackernden Bildfragmente Erinnerungen, Wunsch oder beides sind.

Mittels der filmischen Elemente erzählt die Regisseurin und Drehbuchautorin auf höchst immersive Weise einerseits aus der Perspektive des Kindes und andererseits aus der Sicht unserer Gesellschaft, die von vielerlei Nebenfiguren verkörpert werden: in erster Instanz mittels des Anti-Aggressionstrainers Micha, der Jugendamtmitarbeiterin Frau Bafané, der Kinderärztin, der Pflegemutter sowie den diversen Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen. Aufgrund der häufig wechselnden Wohnorte und Bezugspersonen unterscheidet Benni zwischen ihr nahen Menschen, die sie mit Namen anredet, und allen anderen die mit ihrer Berufsbezeichnung („Hey du, Erzieher“) angesprochen werden.

Der Film ergreift keine Partei oder kommt didaktisch daher. Er weist niemandem eine Schuld zu, sondern zeigt, im Rahmen eines fiktionalen Films, einen Sachverhalt auf.

Die schauspielerische Leistung des Casts im Allgemeinen und die von Helena Zengel, Albrecht Schuch, Lisa Hagmeister und Gabriela Maria Schmeide im Besonderen erzeugen in Verbindung mit Stilmitteln wie Subjektivierungen ein emotionales, kraftvolles cineastisches Werk.

Fazit

Dieser Film wird dich mit seiner vollen Wucht treffen. Die Energie der jungen Protagonistin sowie die ausweglos erscheinende Geschichte, die dem passiven Kinopublikum präsentiert wird, lässt einen niedergeschlagen und nachdenklich zurück. SYSTEMSPRENGER ist eine umfassend recherchierte Reportage im Gewand eines fiktionalen Films.

Auch wenn das Ende etwas zu schnell abgeschlossen wirkt, ist SYSTEMSPRENGER ein höchst empfehlenswerter Film, im Besonderen für Menschen, die nicht in sozialen Berufen tätig sind.

8 von 10 Kinokatzenpunkten

SYSTEMSPRENGER (D 2019)

118 min

Kinostart: 19.09.2019

R: Nora Fingscheidt

D: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Lisa Hagmeister,

Autor*in

Marc studierte Politik, Soziologie und Medienwissenschaft in Kiel. Für den ALBRECHT schreibt er seit 2015 insbesondere für das Kulturressort und dessen Filmsparte KinoKatze.

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