Menschen, die es auch bei leerer Straße und lauem Wind nicht wagen, bei roter Ampel ebenjene gottverlassene Fahrspur zu überqueren, sind temporär geistig beschränkt. Sie benehmen sich so, als würde eine heruntergelassene Schranke – inklusive Wächter mit Waffe und Häuschen – die Fahrbahn einnehmen und alles und jeden daran hindern, weiterzuschreiten. Sollte dennoch mal ein besonders kühner Avantgardist die unüberwindbare Hürde nehmen und unbeirrt die Strecke gehen, trotz eines rot leuchtenden Lichts, so ist er in den Augen der sich selbst beschränkenden Menschen entweder eine Art Magier oder ein Teufel. Entweder heimst er staunende Blicke und Bewunderung ein oder er setzt sich über ihren beschränkten Horizont hinweg, durchkreuzt ihren Alltag und konfrontiert sie, ohne es zu wollen, mit ihrer offensichtlichen Beschränktheit.

Egal ob Gandalf oder Scharlatan, in beiden Fällen drückt sich eine Form von Entsetzen aus: Entweder ein „Wieso bin ich da nicht selbst drauf gekommen?“ oder ein „Wie kann er nur? Das ist verboten!“. Ein Akt der Grenzüberschreitung, der eigentlich keiner ist. Denn niemand würde auf die Idee kommen, jenen tollkühnen Helden zu rügen, weil er bei roter Ampel und leerer, trostloser Straße die Fahrbahn überquert. Der Sturm, den ein solcher Avantgardist in den Köpfen der Beschränkten auszulösen scheint, die sich in Bismarcks Preußen sicher sehr wohl gefühlt und gefügt hätten, ist wie das unbekannte Böse aus den Horrorgeschichten H.P. Lovecrafts: Der Geist des Cthulhus überquert die Straße, es ist das Wesen aus einer fernen und unbekannten Welt, es ist ein Fehler in der Matrix, es ist das magische Biest mit ungeheuren Kräften.

Die vermeintliche sowie physische Grenzüberschreitung wird zu einer moralischen, ja zu einer intellektuellen – in den Augen der Begrenzten wohlgemerkt. Der Avantgardist überschreitet nicht nur eine nicht vorhandene Beschränkung, er überschreitet auch die Beschränkung der sich selbst Beschränkenden. Der Magier lebt von der Beschränkung der anderen Menschen. Würden sich mehr Menschen darauf verstehen, sich aus ihrem selbstgezimmerten Käfig zu befreien, würden sie nicht mehr gierig und sehnsuchtsvoll durch die Stäbe nach draußen blicken und jene Magier oder Teufel beneiden, die scheinbar nicht aus dieser Welt sind und über andere Fähigkeiten verfügen. Stattdessen sind sie aber eingesperrt in einer Höhle, starren an eine Wand und hören Platons Gekicher. Sie erleben sich in einem panoptischen Gefüge, sie wittern Verbot, verurteilende Blicke und vor allem wittern sie ein nicht näher zu bestimmendes „Das macht man aber nicht!“. Foucault grinst und weiß in dem Moment, dass sie sich einem Machtmechanismus unterwerfen, der maßgeblich von ihnen selbst gestützt wird: Die Beschränkten sind beschränkt, weil sie sich selbst beschränken. Freilich, ein Avantgardist zu sein macht nur Spaß, solange genügend Menschen sich selbst kontrollieren. Wenn es zu viele wagen würden, die Straße bei roter Ampel zu überqueren, herrschte wohl Chaos. Der Wächter im Häuschen ist nicht real, die Schranken in den Köpfen der Menschen sind es schon.

Autor*in

Lennard studiert seit dem Sommesemester 2018 Deutsch und Philosohie im Master. Er hat sich bewusst gegen ein Studium auf Lehramt entschieden. Seit Ende letztens Jahres ist er Mitglied der ALBRECHT-Redaktion. Zuvor absolvierte er ein Praktikum bei einer Lokalzeitung und arbeitete als Online-Redakteur.

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