Psychische Diagnosen umfassen immer mehr Patienten, haben aber keine klaren Grenzen.

1968 bis 1972 führte der Psychologieprofessor David Rosenhan ein Experiment in Psychiatrien durch. Acht gesunde Personen stellten sich in zwölf psychatrischen Anstalten vor, mit dem einzigen Symptom, Stimmen zu hören. Alle wurden stationär aufgenommen und meist mit der Diagnose Schizophrenie versehen. Da sie nach der Aufnahme keine Symptome mehr zeigten, wurden sie nach durchschnittlich 19 Tagen als symptomfrei, aber nicht geheilt wieder entlassen. Sie bekamen insgesamt 2100 Tabletten verschrieben. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse kündigte Rosenhan an, in ein Institut, das Fehldiagnosen bei sich ausschloss, ebenfalls Versuchspersonen einzuschleusen. Von 193 wurden 41 für Simulanten gehalten und 42 verdächtigt, ohne dass Rosenhan jemanden dorthin geschickt hatte.

Seit je her bestimmen die, die sich normal nennen, wer nicht zu ihrem erlesenen Kreis gehört und damit als irre gilt. Die Kriterien hierfür haben sich im geschichtlichen Kontext immer wieder verändert. In ‚heidnischen‘ Kulturen glaubten die Menschen, diejenigen, die sich abweichend oder wirr verhielten, seien von bösen Mächten wie Dämonen besessen. Epileptiker zum Beispiel zeigten mit ihren Anfällen die Anwesenheit des Teufels an. Wie auch bei monotheistischen Religionen war als Grund für Irrsinn meist eine Schuld, die nun bestraft würde, angesehen. Oft genügten neben dem Verhalten schon äußere Merkmale wie rote Haare oder ein irrer Blick. ‚Verrückte‘ wurden isoliert und gemieden, sollten durch Folter gereinigt oder zur Sicherheit aller verbrannt werden.

Mit dem Fortschritt der Aufklärung wurden statt einer externen Beeinflussung eher innere Gründe als Erklärung abweichenden Verhaltens gesehen. Da der Mensch imstande sei, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, waren Leute, die Stimmen hörten oder unangebrachte Affekte zeigten, unvernünftig und irrational. Die Maßstäbe für Unvernunft wurden allerdings meist von höheren Schichten gesetzt und veränderten sich dementsprechend mit deren Ansprüchen. Als Mediziner und Psychologen dann begonnen, sich mit sogenannten Geisteskranken auseinanderzusetzen, geschah dies zunächst nur aus dem Wunsch, Aufsässige und Unerwünschte wegzusperren. Nach einiger Zeit entstand aber die Hoffnung, dass man diese Personen von ihrem Leid erlösen könne.

Mittlerweile ist die Psychologie ein beliebtes Forschungsgebiet, das menschenfreundlicher agiert und sich sehr schnell weiterentwickelt. Diagnosemanuale wie das ICD-10 oder das DSM5 bieten den Behandelnden mit der Klassifizierung von psychischen Störungen konkrete Symptome, Prävalenzen und implizieren Behandlungsvorschläge. Psychisch Kranke müssen nicht mehr mit Isolation oder Ignoranz rechnen, da die Gesellschaft durch Psychologen, Medien und Pharmawerbung immer mehr für das Thema sensibilisiert wurde. Dennoch ist eine Entstigmatisierung nicht in Sicht, vor allem, weil die Ansprüche an ‚Gesundheit‘ immer weiter steigen.

Unsere effiziente Gesellschaft verlangt von den Individuen, dass ihre ökonomische Verwertbarkeit ihr Optimum erreicht. Durch diese Ansprüche hat sich die Notwendigkeit schneller Verfahren zur Klassifizierung psychisch Kranker verstärkt. Ärzte bildeten sich weiter, die Gesellschaft wurde und wird immer offener und sensibler im Umgang mit psychischen Störungen. Wenn ein Patient mit Kopfschmerzen und Antriebslosigkeit bei einem Arzt vorspricht, ist für beide nicht einfach eine leichte Migräne der Verdacht. Auch über Stress und psychische Probleme wird gesprochen, bis dann eventuell eine milde Depression der Grund für die Arbeitsfehltage sein kann.

So kam es in den letzten Jahren zu einer Inflation von Diagnosen, ohne dass es tatsächlich mehr psychisch kranke Patienten gäbe, so der Gesundheitsreport der DAK 2013. Diese seien vorher einfach unerkannt geblieben. Dabei basieren die Definitionen nicht auf Fakten, sondern auf Theorien. Es sind keine klar messbaren Funktionssysteme bekannt, die in der Psychologie eine eindeutige Klassifikation zulassen! Der Psychologe Allen Frances, der mitverantwortlich für die Inhalte des DSM IV war, ist mittlerweile einer der bekanntesten Kritiker der Reihe Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. „Niemand von uns hatte das erwartet. Wir dachten, das Buch wäre sinnvoll, um der Psychiatrie Stabilität, Zuverlässigkeit und Genauigkeit zu geben. Aber darin war es zu gut. Jetzt wird es wie eine Bibel behandelt. Dabei sollte es doch einfach ein Leitfaden sein.“ Im neuen DSM 5 habe sich die Problematik noch verschärft. „Probleme, die früher selbstverständlich zum Leben gehörten, werden heute als psychische Störung diagnostiziert und behandelt.“ Ein Beispiel hierfür ist die Klassifizierung von Depression. Trauer als Folge von Verlust galt in der vorherigen Ausgabe als Ausschlusskriterium für die Diagnose, im DSM5 ist das nicht mehr der Fall. Die diagnostische Inflation geht mit einer Überschwemmung des Pharmamarktes einher. Kein Wunder, denn bei der Entstehung des Werkes haben etwa 65% der Mitarbeiter finanzielle Verbindungen zu Pharmaunternehmen.

Für den Patienten bedeutet eine Diagnose heutzutage weniger eine Ablehnung als noch vor einigen Jahren. Sie rechtfertigt das abweichende Verhalten und fordert Mitgefühl. Gleichzeitig führt es aber auch zu selbst erfüllenden Prophezeiungen, da der Kranke sich nun berechtigt krank fühlen darf, was der Verbesserung des Zustandes natürlich wenig zuträglich ist.

Da die Schwellen immer niedriger angesetzt werden, werden auch kleinere Probleme mit einem Etikett versehen, der Anteil der psychisch Kranken nimmt weiter zu und die Behandlungsplätze sind hoffnungslos überfüllt. Deshalb müssen Personen mit ernsthaften Störungen oft mehrere Monate auf eine Behandlung warten. Die Suche nach Diagnosen und ihre Ausweitung auf semikranke Menschen hemmt also effektive Behandlungen und erschafft neue Probleme, statt bestehende zu lösen. Dabei zeigte schon 1972 das Rosenhan-Experiment, dass die Grenze zwischen ‚psychisch krank‘ und ‚gesund‘ subjektiv und willkürlich ist und mit Bedacht gesetzt werden sollte.

Autor*in

Studiert seit 2013 Psychologie in Kiel, und frönt dem ALBRECHT seit dem Wintersemester 2014/15, von 2015 bis 2017 als Bildredakteurin und von Januar 2017 bis Januar 2018 als stellvertretende Chefredakteurin.

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