Als die dreimonatige Semesterpause anbrach, wechselte ich Ende Juli 2013 in eine andere Welt und eine andere Zeit. Ich begann ein dreimonatiges Praktikum in Tokio, der größten Stadt auf diesem Planeten. Im Ballungsraum Tokio leben derzeit weit über 35 Mio. Menschen. Plötzlich war ich einer von ihnen und mittendrin.

Die Uhren ticken in Japan nicht nur genauer, sondern auch anders. Für offizielle Zeitangaben wird bis heute das Jahr des Kaisers verwendet, so steht auf japanischen Geburtsurkunden, Führerscheinen und Zugtickets, nicht 2013, sondern das 25. Jahr Heisei, was so viel wie Frieden bedeutet und der Leitspruch des gegenwärtigen Kaisers Akihito ist.

Es ist sehr viel in dieser gigantischen Megastadt irgendwie ganz anders und exotisch. So gibt es zum Beispiel keine Straßennamen; an einigen Bahnhöfen Menschen mit weißen Handschuhen die, die Massen in die Waggons schieben oder gigantische Kreuzungen die sich niemals leeren.

An einigen Orten dieser Stadt ist man von so vielen Menschen umringt, dass der Orientierungssinn auf eine harte Probe gestellt wird. Ich hatte mich allerdings erstaunlich schnell in die Masse eingefügt und all die grellen Lichter, fremden Zeichen und umher eilenden Menschen wurden Teil meines Alltags.

Da ich das Glück hatte eine private Unterkunft gefunden zu haben, verbrachte ich drei Monate in einem direkt japanischen Wohnumfeld. So wohnte ich in einem Zimmer mit traditionellen Schiebefenstern und -türen, Tatamifußboden, Sitzkissen und rollte mir jeden Abend meinen Futon aus. Im besagten Haushalt erwartete mich auch ein ausgeklügeltes Pantoffelsystem, wie es in Japan typisch ist. So zieht man vor dem Betreten des Hauses die Schuhe aus und Pantoffeln an. In einigen Räumen allerdings, zieht man die Schuhe ganz aus. Die größte Besonderheit sind jedoch die Toilettenpantoffeln. Beim Betreten der Toilette zieht man Plüschpantoffeln an, die neben der Toilette bereitstehen und die alle tragen die diese Räumlichkeit aufsuchen. Den größten Fehler den man begehen kann ist mit den Toilettenpantoffeln zurück in die Wohnräume zu schlurfen. Die Pantoffelregeln einzuhalten erwies sich häufig als viel schwieriger als das Essen mit Stäbchen oder das Zurechtfinden im Linksverkehr.

Ein richtiges Stadtzentrum ist in Tokio schwer auszumachen. Es gibt viele verschiedene Zentren mit einem ganz eigenen Flair und ihren Superlativen. So gibt es in Ikebukero das größte Kaufhaus, in Shinjuku den passagierreichsten Bahnhof, in Shibuya den größten Zebrastreifen. Steht man auf einem der zahlreichen Aussichtspunkte blickt man auf eine Stadt die kein Ende zu haben scheint. Es ist unmöglich in drei Monaten alle Ecken Tokios zu erkunden, aber es lohnt sich jeden Tag neu einzutauchen.

Tradition und Moderne prallen überall aufeinander, mehrere hundert Jahre alte Tempel stehen zwischen Wolkenkratzern und Kaufhäusern;  ältere Damen stehen im Kimono in der U-Bahn neben Geschäftsmännern in weißen Hemden. Dem Beobachter bieten sich ständig neue bizarre Bilder und offenbaren sich kleine ganz besondere Orte. Tokio fällt auch auf durch einen eigenen Modestil, ich würde diesen vielleicht als dezent-auffällig beschreiben, auch hier vereint sich permanent scheinbar Gegensätzliches miteinander. Die Menschen legen prinzipiell hohen Wert auf ein perfektes Äußeres, jedoch ist man hierbei mit einer ganz eigenen Ästhetik konfrontiert.

Schnell lieben gelernt habe ich den Luxus der permanenten Verfügbarkeit von Produkten des alltäglichen Bedarfs. So gibt es überall in Japan kleine Supermärkte, sogenannte „Convenience stores“ die immer geöffnet haben und von der Unterhose bis zur warmen Mahlzeiten auf kleinster Verkaufsfläche alles bieten was man in einem „Notfall“ so brauchen könnte.

Doch ganz besonders praktisch sind all die Automaten. Überall gibt es kalte und heiße Getränke, Eis und Snacks. Auch in Reis oder Nudelkiosken bestellt und zahlt die Kundschaft am Automaten und bekommt dann ein „Ticket“ für die entsprechende Mahlzeit. Geld- und Fahrscheinautomaten sprechen prinzipiell mit ihrem Gegenüber. Zu Beginn erschien das mir etwas befremdlich, irgendwann fand ich das dann ziemlich nützlich und sympathisch.

Sehr positiv überrascht, wenn nicht sogar positiv überwältigt hat mich vor allem die japanische Küche. Selbstverständlich gehört hierzu das berühmte Sushi, welches vor allem durch Frische und vielfältige Variationen überzeugt. Eine breitgefächerte Auswahl an Fleisch- und Fischspezialitäten, die regional variiert, hatte meinen Gaumen schnell verführt und dafür gesorgt das ich sehr viel ausprobierte und mich eigentlich nahezu reinjapanisch ernährte. Besonders vermissen werde ich Onigiris (kleine mit Nori-Algen umwickelte Reisbälle mit verschiedenen Füllungen) oder auch die liebevoll zusammengestellten Bentoboxen mit vielen kleinen Häppchen. Für recht wenig Geld gibt es zudem überall verschiedenste Variationen Gohan (Reis) oder Soba-, Rahmen- und Udonnudeln in den entsprechenden Restaurants.

Der öffentliche Nahverkehr in Tokio funktioniert sekundengenau und ist sehr zuverlässig. Eine Besonderheit gibt es allerdings, ab halb eins bis etwa fünf Uhr morgens pausiert dieser vollständig. In dieser Zeit sind alle Verbindungen eingestellt und das sorgt dafür, dass gnadenlos hochpreisige Taxen, neben dem Fahrrad die einzige Option sind sich zu später Stunde fortzubewegen. Letztlich bleiben dem sparsamen Nachtschwärmer nur zwei Möglichkeiten, entweder er fährt mit der letzten Metro oder bleibt bis fünf. Das nächtliche Erscheinungsbild der Gigastadt ist in dieser Zeit geprägt von den bunten Leuchtreklamen der Karaokecenter, Love-Hotels, Themenrestaurants, Bars, Clubs und anderen Orten hintern denen sich ganz unterschiedliche und einmalige Welten auftun und an denen sich die Zeit gut bis fünf Uhr überbrücken lässt.

Beeindruckend ist auch der Umgang mit der ständigen Angst vor Erdbeben, Taifunen, Vulkanausbrüchen oder Tsunamis. Sie ist allgegenwärtig und mündet in einem erstaunlich routinierten und kontrollierten „Tanz auf glühenden Kohlen“ der Massen. In Tokio bereitet man sich mental schnell auf das schlimmste vor und kommt zu der Einsicht im Ernstfall müssen wir dann alle gemeinsam da durch.

Eines vieler Highlights, aber ein ganz besonderes war ein kurzer, aber intensiver Railpasstrip mit dem Shinkansen. Der Reiseplan entsprach wohl etwas unseren japanischen Klischees: 6 Städte, 1 Insel, 1600 Zugkilometer und 800 Fotos in 7 Tagen. Erlebnisse wie eine Teezeremonie in einem Zen-Tempel in Kyoto, zwei Nächte im Kapselhotel in Osaka und der Peace-Memorial-Park im ehemaligen Epizentrum einer Atombombe in Hiroshima werden mir sicher unvergesslich bleiben.

Was Tokio anbetrifft lässt sich jedenfalls noch sehr viel mehr berichten: Kaufhäuser ausschließlich für Roboter, Handyhüllen oder Plüschtiere; Live-Musik von Elvis-Doubles im Park; traditionelle Tanzparaden, Feuerwerke oder Volksfeste in der ganzen Stadt; sehr entspannende Aufenthalte in öffentlichen Bädern, in denen man splitternackt mit anderen in Holz- oder Steinbecken sitzt; Sumo-Wettkämpfe oder schrille Wettbewerbe von Plüschmaskottchen. In Tokio kann man unbeschreiblich viele einmalige Dinge und Orte bestaunen und lieben lernen. Wer auf der Suche nach einem urbanen Abenteuerdschungel ist, dem sei Tokio wärmstens empfohlen.

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