Ein Kommentar

Das Attribut ‚männlich‘ beschreibt schon seit Jahrhunderten mehr als Menschen mit Y-Chromosom. Es steht vielmehr für Vorstellungen, Ideale und Ansprüche, die sich auf Aussehen, Verhalten und Fähigkeiten beziehen. Ausdruck finden sie in Kunst, wie Herbert Grönemeyers sehr treffendem Lied Männer, oder dem Idealkörper von Michelangelos David, aber auch ständig in mehr oder weniger angebrachten Äußerungen wie „Jungs weinen nicht“ – welche scheinbar präsent genug ist, um als Titel von Büchern, Liedern und Filmen herzuhalten. Menschen, die sich – zumeist aufgrund des Tragens und des Gebrauchs männlicher Geschlechtsteile – selbst als männlich bezeichnen, versuchen in der Regel, diesen Idealen zu entsprechen. Dies kann sich auf unterschiedliche Arten äußern: muskulös und heterosexuell sehr aktiv, technisch interessiert und handwerklich begabt, erfolgreich und im Besitz eines schnellen Autos, um nur ein paar Stereotypen aufzugreifen.

Neben positiven Männerbildern gibt es auch eine Reihe von Verhaltensweisen oder Problemen, die mit Männern assoziiert sind und Schaden herbeiführen. Schaden gegen andere, wie Frauen, LGBTQ-Menschen oder Schwächere, aber auch Schaden gegen sich selbst. Zahlreiche Studien belegen, dass Männer ein höheres Risiko haben, chronisch zu erkranken oder sich zu verletzen. Im Durchschnitt sterben sie sieben Jahre früher als Frauen und mit höherer Wahrscheinlichkeit an Krebs, Herzinfarkten oder durch Suizid – letzteres fügen sie sich sogar dreimal häufiger zu als Frauen. Diverse soziologische, medizinische und psychologische Untersuchungen deuten darauf hin, dass die hohen Gesundheitsrisiken von Männern zu großen Teilen auf ihr Gesundheitsverhalten zurückzuführen sind, das stark durch Vorstellungen von Männlichkeit, wie den Wunsch, nicht schwach zu wirken, geprägt ist. So schätzen Männer zum Beispiel durchschnittlich ihre Anfälligkeit für Krankheiten oder Verletzungen zu niedrig ein, konsultieren seltener Ärzte und gehen mit ihrem Handeln unnötige gesundheitliche Risiken ein.

Mit Problemen, die durch das Konstrukt Männlichkeit entstehen, befasst sich Jack Urwin in seinem Buch Boys don‘t cry, basierend auf Statisitken, Fallbeispielen und Eigenerfahrungen. Dabei beleuchtet er Gewalt, Massenerschießungen (die in den USA zu 98 Prozent von Männern verübt werden), Diskriminierung und Vergewaltigungen als direkt schädliche Aspekte und schlechte Vater- oder Partnerschaft als indirekt schädliche Faktoren. Seine Auseinandersetzung mit Männlichkeit zeigt, dass besonders dann Probleme entstehen, wenn diese als gefährdet wahrgenommen wird. „Männer können – für andere und für sich selbst – am gefährlichsten sein, wenn sie das Gefühl haben, ihre Männlichkeit würde infrage gestellt“, so Urwin. Diesen gefährlichen und alltäglich beobachtbaren Zustand nennt er „toxische Männlichkeit“ und definiert ihn wie folgt: „übertriebenes Verhalten, das darauf abzielt, noch männlicher zu erscheinen, gewöhnlich motiviert durch Unsicherheit und im Allgemeinen weit entfernt vom positiven echten Ausdruck von Männlichkeit, die es zu imitieren sucht.“


„Männer haben’s schwer, nehmen’s leicht […]
Werden als Kind schon auf Mann geeicht“

Herbert Grönemeyer, Männer


Männer stehen, eigener Beobachtung nach vielleicht sogar mehr als Frauen, unter dem immensen Druck, sich entsprechend ihres Geschlechtes und den damit verbundenen Erwartungen zu präsentieren. Besonders in der Jugend, wenn das eigene Geschlecht und dessen sexuelle Funktionen sich omnipräsent im Bewusstsein aller Adoleszenten einnisten, ist der Druck, der biologischen Einteilung auch zu entsprechen, besonders hoch. Ein Mann kommentierte dies mit „selbst wann man diese Problematik reflektieren kann und für schlecht befindet, probier‘ mal in einem Haifischbecken etwas anderes auszuleben“. Dass beruflicher Erfolg außerdem stärker mit einem positiven Männerbild assoziiert ist, als ein liebevoller Vater zu sein, verschlimmert die Probleme toxischer Männlichkeit durch die Weitergabe problematischen Verhaltens zwischen den Generationen. Eine Abwälzung der Verantwortlichkeit auf Männer allein ist deshalb aber keinesfalls angebracht, denn bewusst oder unbewusst trägt fast jeder dazu bei, Rollenbilder zu vermitteln und verstärken. Frauen tun dies auch, wenn sie zum Beispiel vom muskulösen Mann über die Schwelle getragen werden wollen oder erwarten, dass der Mann technische und handwerkliche Aufgaben im Haushalt übernimmt.

Es ist bitter und ironisch, dass wir alle ein Konstrukt aufrechterhalten, dessen Probleme, wie toxische Männlichkeit, jeden Menschen betreffen: Die Männer, die Schaden hinzufügen und nehmen, sowie Menschen, die Geschlechtern oder deren Rollen nicht entsprechen und die Frauen, die vielleicht durch frühe Tode ihrer Partner allein dastehen oder durch übles, oft sexuelles Verhalten verletzt werden.
Sexismus betrifft Frauen ständig und ist bei genauerer Untersuchung vielschichtig problematisch. Hierzu ein Beispiel einer Freundin: Als sie nachts während der Kieler Woche auf dem Fahrrad an drei jungen Männern vorbeifuhr, rief ihr einer hinterher „Ey Schlampe, zeig‘ mir deine Fotze“. Nach einer Vollbremsung konfrontierte sie den Pöbler und seine Freunde, von denen scheinbar keiner bereit war, anzuerkennen, dass solche Worte in keiner Weise akzeptabel sind. Toxische Männlichkeit äußert sich hier in üblem, ekelhaftem Sexismus, der Rechtfertigung dessen und der Nicht-Verhinderung dieses Verhaltens durch die männlichen Freunde. Zu sagen, der Freund wäre zu betrunken und ein Arsch, reicht nicht, denn so ein Verhalten sollte, egal in welchem Zustand, nie toleriert, sondern unterbunden werden.

Die Selbstverständlichkeit solcher Situationen macht diesen Vorfall noch schlimmer und interessanter als nur die Wortwahl und die Unfähigkeit, sie als inakzeptabel zu erkennen. Jede Frau könnte von mehreren Situationen berichten, in denen sie oder ihr Körper ungefragt objektiviert, sie Schlampe genannt oder sie dazu aufgefordert wurde, ihre Geschlechtsteile zu präsentieren. Zum Beispiel auf Festivals, wenn betrunkene Typen auf Campingstühlen „Titten raus, es ist Sommer!“ rufen, was nur sehr selten so angegangen wird, wie es angegangen werden müsste. Dass solche unangenehmen Ausrufe als normaler Ton auf Festivals abgetan werden können und erst bei näherer Reflexion als inakzeptabel gesehen werden, zeigt, wie schwer es ist, sich von etablierten Verhaltensweisen zu lösen und nachhaltige wie nötige Änderungen herbeizuführen.


„Männlichkeit ist ein mächtiges Ideal, das anzustreben Männer (und in gewissem Maße auch Frauen und andere) ermutigt werden“

Jack Urwin, Boys don‘t cry


Übersexualisierung von Männern ist allgemein ein großes Problem, nicht nur für die Frauen, die permanent sexuell objektiviert werden, sondern auch für den Zwanzigjährigen, der sich seiner Jungfräulichkeit schämen muss. Es ist kein leicht zu realisierendes Anliegen, Männer von dem Druck, bestimmten Ansprüchen oder Vorstellungen genügen zu müssen, zu befreien. Dafür müssen mehrere Dinge passieren: Zunächst müssen sich Männer im gegenseitigen Kontakt öffnen, um andere Männer zu erreichen und ihnen zu zeigen, dass es kein Problem ist, Schwäche zu zeigen, über Probleme zu reden oder nicht dem klassischen Bild eines Mannes zu entsprechen. Dazu gehört auch, sich von den allgegenwärtigen und zutiefst unrealistischen Schönheitsidealen zu lösen, die Geschlechterrollen immens verstärken und viele Menschen psychisch enorm belasten. Männer müssen kein Sixpack haben, und Frauen können auch einen attraktiven Körper haben, ohne dabei Untergewicht zu riskieren. Weiterhin muss die starke Verknüpfung von Männlichkeit, Heterosexualität und Biologie gelöst werden, denn schwul oder bisexuell zu sein, steht nicht im Widerspruch dazu, ein biologischer Mann zu sein, und statt biologischen Merkmalen kann die Identifikation und das selbst gewählte Gender die Geschlechterzughörigkeit definieren.

Unter anderem wird Männlichkeit mit Stärke assoziiert. Dennoch beschreibt sie ein fragiles Konstrukt, das ständig aufrechterhalten und validiert werden muss. Warum wird also daran festgehalten? Es gibt Bücher, die Männlichkeit stärken oder Männlichkeit leben heißen, mit denen Männer ihr Selbstbewusstsein und positiv besetzte, mit Männlichkeit assoziierte Attribute festigen sollen. Doch die mangelnde Stabilität dieses Konstruktes birgt immer eine Gefahr, wenn positive Eigenschaften mit Männlichkeit verknüpft werden. Würden sie stattdessen selbstverständlich jedem Menschen vermittelt, und unabhängig von Zuschreibungen zu einem Geschlecht gelebt, könnte das Selbstbewusstsein und die eigene Identität viel stabiler sein. Es ist also wichtig, nicht einfach nur ein gesundes und unproblematisches Männerbild zu vermitteln (was natürlich pragmatisch gesehen der erste, aber langfristig unzureichende Schritt wäre), sondern sich dem Ideal eines starken, respektierten und unabhängigen Menschen hinzuwenden, das nicht an die Erwartungen an ein Geschlecht gekoppelt ist. Jack Urwin fasst am Ende seines Buches zusammen, was Männer von Gleichberechtigung und damit einer Beendigung toxischer Mänlichkeit haben: bessere Beziehungen, längeres Leben und Glück, insbesondere für Männer, indirekt aber auch für jeden Menschen. Diese Dinge entsprechen wahrscheinlich dem Wichtigsten, was sich die meisten Menschen wünschen. Nun ist es an der Zeit, es sich zu erarbeiten.


Titelbild: Rune Weichert

Autor*in

Studiert seit 2013 Psychologie in Kiel, und frönt dem ALBRECHT seit dem Wintersemester 2014/15, von 2015 bis 2017 als Bildredakteurin und von Januar 2017 bis Januar 2018 als stellvertretende Chefredakteurin.

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