Mahmud entscheidet sich für die grüne Kugel. Er nimmt einen Schritt Anlauf, holt aus und lässt sie dann mit einem leichten Krachen auf die Bahn fliegen. Mittig rollt sie den Holzsteg hinunter und trifft den ersten Pin in einem maximal günstigen Winkel. Strike! Mahmud dreht sich um, schiebt sich die Brille zurück und strahlt über das ganze Gesicht. Er ist das erste Mal in seinem Leben beim Bowling, doch die Partie läuft ausgesprochen gut für ihn. Ursprünglich kommt der junge Mann aus Afghanistan. Er hat dort an der Universität Mathe studiert, mit Einfallswinkeln kennt er sich also aus. Doch die Lage in seiner Heimat hat ihn gezwungen, ihr ein Jahr vor seinem Abschluss den Rücken zu kehren. Stattdessen ist er nun in Kiel und spielt an diesem Nachmittag gemeinsam mit drei Iranern und drei deutschen Studenten, mit denen er bis eben gerade noch nie gesprochen hat.

Veranstalter des Treffens ist kulturgrenzenlos, ein Kieler Flüchtlingsprojekt, das direkt mit der Universität verbunden ist. Ins Leben gerufen wurde es von Lea, Jana und Corinna, drei Studentinnen, die im Rahmen ihres Masterstudienganges an dem sogenannten Changemaker Curriculum teilnahmen. „Für uns war von Anfang an klar, dass wir ein Angebot für Flüchtlinge ins Leben rufen wollten“, erzählt Corinna. Die entscheidende Frage sei also gewesen, was den Menschen, die in unser Land kommen, am meisten fehle. „Heute würde ich vielleicht sagen, dass es ausreichend Sprachkurse sind. Damals aber stand für uns fest, dass es in erster Linie der Anschluss an die deutsche Gesellschaft war.“ So entstand die Idee zu einem Tandem-Projekt, bei dem je ein Kieler Studierender einem Geflüchteten zugeordnet würde. Die Partnerschaft sollte den Neuankömmlingen nicht nur dabei helfen, schneller Deutsch zu lernen und einen Ansprechpartner für die vielen sich ergebenden Probleme zu haben. In erster Linie ging es den Initiatoren darum, kulturelle Grenzen zu überwinden und vielleicht sogar Freundschaften entstehen zu lassen.

Über ein halbes Jahr ist es inzwischen her, dass die drei ihren Vorschlag beim Yooweedoo-Ideenwettbewerb einreichten und die Fördersumme erhielten. „Werbung haben wir zunächst vor allem in den an der Volkshochschule angebotenen Deutschkursen gemacht“, sagt Corinna. Dabei sei ihnen wichtig gewesen, dass alle Geflüchteten bereits mindestens B1-Niveau erreicht hätten, um die Kommunikation für beide Seiten zu erleichtern. Die Kieler Studierenden wurden bei einer Auftaktveranstaltung im April informiert, bei der kulturgrenzenlos Unterstützung unter anderem vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein erhielt. Mittlerweile ist das Projekt ein Selbstläufer. Rund 140 Tandem-Paare gibt es bereits, und auch das Team hat sich erweitert. Malwina, Judith und Leoni kamen hinzu, seit Kurzem ist auch der Geflüchtete Amer aus Syrien als Organisator mit dabei. Einen Großteil ihrer Freizeit investieren die jungen Leute in Koordination und Kommunikation. Auch die alle zwei Wochen stattfindenden Treffen, die allen Teilnehmern und Interessierten offenstehen, müssen geplant und vorbereitet werden: ob ein Tag am Strand, gemeinsames Pizzabacken in der Alten Mu, Fußball spielen auf den Unisportwiesen oder Picknick im Schrevenpark.

Beim heutigen Bowlen wird der Umgang miteinander schnell locker und ungezwungen. Nicht alle haben so viel Anfängerglück wie Mahmud, aber die Stimmung ist gut und es wird viel gelacht. Wer nicht an der Reihe ist, kommt ins Gespräch. „Von der Flucht selbst erzählen nur wenige“, weiß Corinna. „Dafür wird sich viel über kulturelle Unterschiede ausgetauscht: Wie ist es hier, wie war es in deiner Heimat?“ Die meisten Geflüchteten stammen aus Syrien und Afghanistan, aber auch viele aus Somalia, Eritrea, dem Jemen, Iran und Irak. Jeder hier hat seine eigene Geschichte. Zum Beispiel Ali, der zum Christentum konvertiert ist und deshalb Zuhause im Iran nun um sein Leben fürchten muss. Oder Mohammad, dessen Heimatuniversität im Jemen aufgrund des Krieges inzwischen geschlossen wurde. Doch hier beim Bowlen werden die Sorgen für eine kurze Zeit ausgeblendet. Auch die Frage, ob diejenigen, deren Asylantrag noch nicht bearbeitet wurde, langfristig werden bleiben dürfen.

Trotz der vielen gemeinsamen Unternehmungen sind es die Tandempartnerschaften, die bei kulturgrenzenlos im Mittelpunkt stehen. Jeder Interessierte kann dazu einen kurzen Fragebogen ausfüllen und ihn online oder persönlich einreichen. „Wir achten dabei vor allem auf das jeweilige Alter und freuen uns, wenn wir zwei Leute mit ähnlichen Interessen zusammenführen können“, erklärt Malwina. Auch die Angabe, ob eher ein männlicher oder ein weiblicher Partner gewünscht werde, sei selbstverständlich entscheidend. „Leider melden sich nach wie vor mehr weibliche, deutsche Studierende und mehr männliche Flüchtlinge, obwohl gerade für letztere ein gleichgeschlechtlicher Ansprechpartner am Anfang vielleicht einfacher wäre“, so Judith. Trotzdem liefen die meisten Tandems wirklich gut. „Und wenn es mal nicht auf Anhieb funktioniert, ist das ja total normal“, ergänzt Corinna. „Menschen sind verschieden, das wissen wir und darauf sind wir eingestellt.“ Sich immer nur zu zweit zu treffen, könne ohnehin auf Dauer schwierig werden. Langfristig sei es deshalb am Schönsten, wenn die Geflüchteten in einen deutschen Freundeskreis integriert würden. Einige Beispiele haben bereits gezeigt, dass dies kein Wunschdenken bleiben muss.

Wer Interesse hat, sich ebenfalls bei kulturgrenzenlos zu engagieren, kann sich bei den Gruppentreffen einen guten ersten Eindruck verschaffen. In der Weihnachtszeit finden diese am 03.12. zum Schlittschuhlaufen und am 17.12. zum Kekse backen statt. Genauere Informationen sowie den Kontakt zu den Verantwortlichen findet Ihr unter https://www.facebook.com/kulturgrenzenlos/ oder per Mail über kulturgrenzenlos@posteo.de.

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