Ein Kommentar von Leona Sedlaczek

Bevor die Frage nach der Anwesenheitspflicht überhaupt erst diskutiert werden sollte, müssen sich beide Seiten in einer grundlegenden Annahme einig sein: Studierende wollen studieren. Dies ist die unumgängliche Basis – besteht diese nicht, ist auch die Debatte hinfällig.

Befürworter der Anwesenheitspflicht begehen häufig den Fehler, Studierenden eben dieses Interesse abzusprechen. Wer jedoch nicht studieren will, ist im besten Falle gar nicht erst an der Universität eingeschrieben. Anwesenheitspflicht sollte deshalb nicht dazu dienen, diejenigen an die Universität zu binden, die eigentlich gar nicht dort sein wollen und ihr Studium gegebenenfalls abbrechen. In der Debatte muss also von einer Studierendenschaft ausgegangen werden, die ihren Abschluss anstrebt und studieren will.

Eines der größten und berechtigten Bedenken der Befürworter der Anwesenheitspflicht ist: Wer nicht zu Lehrveranstaltungen geht, hat gegebenenfalls größere Schwierigkeiten, sich auf die anstehenden Prüfungen vorzubereiten. Allerdings darf hier nicht körperliche Anwesenheit mit aktiver Teilnahme verwechselt werden. Auch Studierende, die Veranstaltungen regelmäßig zu besuchen, müssen manches Mal den Drittversuch in Anspruch nehmen. Der Stoff ist zu schwierig, das Thema nicht die Stärke der betreffenden Person, andere Verpflichtungen rauben Zeit zum Lernen, oder schlicht Faulheit – die Gründe für einen ausbleibenden Studienerfolg sind vielfältig. Leider gibt es kein entweder anwesend und glorreich oder nicht anwesend und erfolglos. Letztlich sind Faktoren wie Talent, Begabung, Fleiß, Zeitmanagement, Verfügbarkeit und nicht zuletzt Qualität der Lehre entscheidend für den Lernerfolg. Wenn Anwesenheitspflicht lediglich bedeutet, dass jemand sich körperlich im Seminarraum befindet, ist sie Machtinstrument, nicht aber Lernhilfe.

Wer ein Studium beginnt, trifft diese Entscheidung als mündiger, erwachsener, verantwortungsvoller Mensch. Mindestens zwölf Jahre Schule und ein Abitur, für das selbstständig und gewissenhaft gelernt werden musste, liegen hinter jedem Studierenden – das Handwerkszeug ist da und will Anwendung finden. Die Abschaffung der Anwesenheitspflicht hilft dabei, Selbstorganisation zu erlernen und durchzuführen, Verantwortung für sich selbst und die persönlichen Entscheidungen zu übernehmen und aus Erfahrungen zu lernen. Wer dann doch durch Faulheit durch eine Prüfung fällt, wird sich beim nächsten Mal anders verhalten, ob mit oder ohne Anwesenheitspflicht. Eine Abschaffung bedeutet nämlich nicht das Ende der Prüfungsordnungen, sie ermöglicht lediglich, ein Stück freier zu entscheiden, wie gelernt wird.

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Studierende wollen studieren, das muss klar sein. Wer dann doch durch Faulheit durch eine Prüfung fällt, wird sich beim nächsten Mal anders verhalten, ob mit oder ohne Anwesenheitspflicht // congadesign

Vernunft und Verantwortung dürfen jedoch nicht nur von Studierenden gefordert werden. Wer an einer Universität doziert, hat einen Lehrauftrag, der bedauerlicherweise immer häufiger in den Schatten der Forschung rückt. Dies ist auch ein strukturelles Problem. Ist gute Lehre nur da vorhanden, wo es Dozierenden persönlich ein Anliegen ist, diese anzubieten, dann haben wir einen Fehler im universitären System. Studierende wollen studieren, aber nicht ihre Zeit verschwenden. Viele gehen ehrenamtlichen, familiären, oder finanziellen Verpflichtungen nach – wer nur zu den Seminaren geht, die tatsächlich förderlich sind, trifft eine legitime Entscheidung, die vielleicht auch die ein oder andere eingeschlafene Didaktik wachzurütteln vermag.

Geringere Teilnehmerzahlen in Seminaren können darüber hinaus ein fruchtbareres Arbeitsklima bedeuten. Eine Diskussion mit fünf tatsächlich Interessierten zu führen, ist spannender, als mit einem Raum voller Menschen, unter deren teilnahmsloser Anwesenheit das Kursklima leidet. Anwesenheitspflicht zwingt zu kommen,  keine Anwesenheitspflicht zwingt im Umkehrschluss jedoch nicht, Veranstaltungen fern zu bleiben. Sie bedeutet lediglich, bewusster über die Gestaltung des eigenen Studiums zu entscheiden und fördert Selbstbestimmtheit und Verantwortungsbewusstsein.

Die Frage nach der Anwesenheitspflicht ist also weitreichender als sie zunächst scheint. Sie wirft gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und philosophische Fragen auf: Wie wollen wir studieren? Wie wichtig ist uns Selbstbestimmtheit? Was für Menschen sollen die Uni verlassen und welche Prägungen sollen sie erfahren haben? Wie hörig soll unsere Gesellschaft sein und wer profitiert davon? Wie viel Wirtschaftsgedanke steckt hinter dem funktionierenden Akademiker? Dies sind große Fragen für eine scheinbar kleine Debatte, aber uns muss klar sein, dass unser Bildungssystem den Aufbau und Wandel unserer Gesellschaft bestimmt. Das Freiheitsargument der Gegner der Anwesenheitspflicht hat deswegen so viel Berechtigung, weil es den Fehler im System erkennt. Zu hohe Teilnehmerzahlen in den Kursen, Dozierende, die lieber forschen als lehren, frustrierte Studierende, die in der Masse untergehen – Anwesenheitspflicht ist ein Deckmantel für dieses fehlerhafte System. Dort, wo gute Lehre unter angemessenen Bedingungen stattfindet, muss keiner gezwungen werden, sie in Anspruch zu nehmen, denn: Studierende wollen studieren. Die Frage ist nur wie.


Titelbild: Wikimedia Commons, Uni EF; bearbeitet von Leona Sedlaczek

Autor*in

Leona ist seit Juni 2014 Teil der Redaktion und war von Dezember 2014 bis Februar 2017 Chefredakteurin der Print-Ausgabe des ALBRECHT. Anschließend leitete sie die Online-Redaktion bis Mitte 2018. Leona studiert Englisch und Französisch an der CAU, schreibt für verschiedene Ressorts der Zeitung und kritisiert Land, Leute, Uni und den Status Quo ebenso gerne wie Platten.

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