Das Sonnenlicht kitzelt mich an der Nasenspitze, ich rümpfe sie und drehe mich weg, ziehe mein Kissen übers Gesicht und stöhne leicht auf. Mein Bauch grummelt, ich ziehe mein verrutschtes T-Shirt zurecht und versuche, eine gemütliche Schlafposition zu finden. In der Küche nebenan scheppert es im Topfregal, wieder Einschlafen ist jetzt fruchtlos geworden, ich drehe mich zu meinem Wecker und hebe den Kopf an, um die Uhrzeit zu erfahren. Plötzlich schießt ein Schmerz durch meinen Nacken, irgendwas ist hier überdehnt. Mit weniger Eigenbewegung habe ich mich noch nie verletzt. Ich richte mich auf, setze mich auf die Bettkante und massiere mir den schmerzenden Nacken, ich trinke einen Schluck aus der Wasserflasche am Bett, um den trockenen Geschmack in meinem Mund loszuwerden und mein Magen meldet sich erneut mit dem Geräusch eines langsam anfahrenden Bulldozers. Ich krame in der zu meinen Füßen liegenden Jeans nach meinem Mobiltelefon, 20 neue Nachrichten, die meisten davon aus einem Gruppenchat: Absagen für die morgige Sitzung mit langatmig ausgeführten Erklärungen. Super, ich wollte immer schon wissen, wer gerade wo an welcher Hausarbeit sitzt oder Konzertkarten hat, vielen Dank. 1

Eine schnelle Dusche mit dem neuen Minzshampoo – danke an meinen Mitbewohner fürs Anschaffen – und fast verletzungsfreies Rasieren später stochere ich lustlos in meinen Cornflakes herum. Immerhin ist mein Mitbewohner schon aus dem Haus, sonst müsste ich in meinem Zimmer essen. Vor 12 Uhr finde ich Menschen schwer erträglich – sie mich auch. Überhaupt ist mein Rapport mit Menschen nicht der beste, das zeigt sich schon daran, dass ich ein Wort wie Rapport ernsthaft benutze. Ich weigere mich einfach, bestimmte Dinge zu verstehen. Smalltalk gehört dazu. Wenn ich mich mehrere Monate nicht bei dir gemeldet habe, dann interessiert es mich meistens auch jetzt nicht, was in diesen Monaten passiert ist. Oh, du warst in Barcelona? Wie schön für dich, ich war in Wanne-Eickel. Das schönste an dem Stadtteil ist die Bahnstrecke nach Gelsenkirchen. Smalltalk ist so unehrlich und affektiert, so amerikanisch im Sinne von Herzanfall und Amokläufen; nichtsdestotrotz ist er auch unentbehrlich. Man hat sich daran gewöhnt, dass Smalltalk abgefragt wird, es geht ums Wetter, um Sport oder ein tolles Buch, das Elke Heidenreich empfohlen hat. Dann fallen auch oft Sätze wie „Ich habe es ja nicht glauben wollen, aber …“ oder „Thailand ist wie Mallorca vor 15 Jahren, so frisch und lebendig.“ Solche Sätze sollte niemand sagen: nicht einmal meine Großmutter anno 1960 mit Lockenwicklern im Haar und BUNTE auf dem Schoß. Menschen, die solche Sätze von sich geben, wohnen in einer Doppelhaushälfte, besitzen einen handtaschengroßen Hund, sind mit ihrer gesamten Familie auf Facebook befreundet und wünschen einer Chatgruppe per Bild Frohe Ostern. Früher brauchte man noch Stift, Papier und die Adresse einer Tageszeitung, um sein Mitteilungsbedürfnis auf so nervige Art und Weise auszuleben, heute reicht ein Smartphone. Schön sind auch diejenigen, die das Wetter auf diese Art und Weise kommentieren, für Menschen ohne Fenster, vielleicht ja für die engen Freunde in Isolationshaft mit Handy, der deutsche Justizvollzug kennt das sicherlich. Das Argument ist ähnlich alt wie soziale Netzwerke: Niemand hätte sich noch vor hundert Jahren auf einen öffentlichen Platz gestellt und seine Tagespläne oder sein Mittagessen präsentiert. Doch auch vor hundert Jahren waren wir Menschen schon um unseren Status besorgt. Eine goldene Rolex Day-Date oder ein Armani Anzug sind nicht mehr als die Prototypen der Art von überbordendem Mitteilungsbedürfnis, das mir so zuwider ist, wenngleich ich auch nicht frei von Schuld sein mag. Es gibt nun einmal Menschen, die wie die Romanfigur Patrick Bateman oder der Unternehmer Lapo Elkann sich in erster Linie über Status und Meinung definieren; Steve Jobs hat man seinen Reichtum nicht angesehen, der britische Rapper Skepta trägt immer noch nur Sneaker und Trainingsanzüge. Die Frage die wir uns angesichts der modernen Möglichkeiten der Informationswiedergabe stellen müssen ist doch einfach, was wir wem wie mitteilen wollen und sollen. Chatgruppen zu Sportmannschaften und Lerngruppen sind zweckorientiert, Social-Media-Profile sind Mittel der Selbstdarstellung. Dass ich mir Spaghetti Carbonara gemacht habe, interessiert meine Lernpartner wohl eher weniger, meine Instagram-Jünger schon eher, aber es geht wohl keine der beiden Gruppen wirklich etwas an. Wenn wir den Brückenschlag schaffen und irgendwo zwischen dem Denken unserer Großeltern à la „Was werden die Nachbarn denken?“ und kompletter Ataraxie landen, ist allen ein Dienst erwiesen.

Ich bitte nun um Verzeihung, die Mutter meiner besten Freundin hat soeben mein neues Profilbild aus dem Italienurlaub kommentiert und ich muss noch auf gefällt mir klicken. Guten Tag!

1 Wieso können Gruppennachrichten keine interessanten Informationen beinhalten? Dinge, die einen schockieren, wie die Tatsache, dass 1981 der letzte Mensch auf deutschem Boden hingerichtet wurde oder dass die Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich erst seit 2007 Teil der Verfassung ist? In der ehemaligen DDR fanden die Hinrichtungen ab 1952 übrigens am Münchner Platz statt – in dem Gebäude ist heutzutage die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der TU Dresden untergebracht, zentral erreichbar mit der Straßenbahnlinie 3. Einfach von Norden aus Richtung Coschütz fahren und am Münchner Platz aussteigen. Schon die Nazis haben das Gebäude als zentrale Hinrichtungsstätte genutzt, der zugehörige Scharfrichter wohnte in Halle an der Saale. Das könnte man mal in einer Gruppendiskussion ausführen, das wäre doch mal nützlich. Ich habe auch Hausarbeiten nicht abzugeben und Klausuren nicht zu bestehen, aber ich melde das nicht 30 uninteressierten Menschen, damit ich eine handvoll Mitleids-Emojis ernte. Ich schlage lieber Informationen über Hochschulen in der Dresdner Südvorstadt oder Straßenbahnwagen von Bombardier nach. Die Dresdner Verkehrsbetriebe haben übrigens Wagen von Bombardier aus Bautzen, genau wie die Straßenbahn in Leipzig.

Autor*in

Paul war seit Ende 2012 Teil der Redaktion. Neben der Gestaltung des Layouts schrieb Paul gerne Kommentare und ließ die Weltöffentlichkeit an seiner Meinung teilhaben. In seiner Freizeit studierte Paul Deutsch und Anglistik an der CAU.

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