Als Symbol für Autismus wird oft ein Puzzleteil verwendet. Es soll eine Anspielung auf das fehlende Stück, auf das, was Autist:innen nicht ganz vollständig macht, sein. Doch Autismus ist nicht das Fehlen eines Puzzleteils und dennoch wird es von vielen genauso wahrgenommen. Dies basiert darauf, dass bei dem Großteil der Bevölkerung das Wissen darüber, was Autismus ist, nur sehr rudimentär vorhanden ist. Das schließt auch Mediziner:innen und Psychotherapeut:innen mit ein. Die Folge? Viele Autist:innen werden gar nicht oder erst sehr spät diagnostiziert. 

Vom Stereotyp zur Modediagnose 

Der Begriff Autismus besteht seit 1911 und umfasste lange hauptsächlich weiße Jungs, die ein stereotypisches Verhalten an den Tag legten. Es fand eine starke Kategorisierung nach niedrig- und hochfunktionalem Autismus statt. Dass dieses Schwarz-Weiß-Denken nicht der Realität entspricht, sondern vielmehr schädlich ist, findet mittlerweile im DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (USA)) und im ICD-11(International Classification of Diseases and Related Health Problems der WHO) Beachtung.  
Doch gibt es immer noch sehr wenige Expert:innen auf dem Gebiet, sodass überwiegend nach stereotypischen Vorstellungen diagnostiziert wird und so viele durchs Raster fallen.  

In den letzten Jahren gab es aber dennoch einen Umschwung. Es werden nicht nur vermehrt Mädchen und nicht-stereotype Jungs diagnostiziert, sondern auch immer mehr Erwachsene. So auch ich. Im Alter von 27 Jahren habe ich meine Diagnose erhalten.  
Die vermehrten Diagnosen fallen auch den nicht-autistischen Menschen der Gesellschaft auf. Seit Jahren ist entweder von einer Autismus-Pandemie die Rede, oder davon, dass Autismus eine Modediagnose sei und die meisten Autist:innen gar keine Autist:innen seien. Sowohl Erstes als auch Zweites ist falsch. Schließlich ist das Wissen über Autismus stark gestiegen und die Diagnosekriterien wurden dementsprechend angepasst. Dass es mehr diagnostizierte Autist:innen als früher gibt, darf nicht mit „es gibt mehr Autist:innen als früher“ verwechselt werden. Denn uns gab es schon immer, wir rücken nur mehr in die öffentliche Wahrnehmung.   

Eine neurologisch bedingte Wesensart  

Aber was genau ist Autismus eigentlich? Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) wird als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ beschrieben, doch erklärt dies nur, dass Autismus nicht plötzlich auftaucht, sondern schon immer in der Person war. Wie genau es zum Autismus kommt und was eventuelle Ursachen seien könnten, darüber wurde viel geforscht und spekuliert. Viele Laien ordnen ihn den psychischen Krankheiten oder den geistigen Behinderungen zu. Allerdings ist er keines von beiden. Die meisten Autist:innen sind durchschnittlich bis überdurchschnittlich intelligent. Es gibt aber auch Autist:innen, die eine geistige Behinderung haben und mindestens 50 Prozent haben eine oder mehrere psychische Erkrankungen. 
Heute wissen wir, dass es eine genetisch und neurologisch bedingte Wesensart ist. So kann Autismus vererbbar sein – auch wenn DAS Autismus-Gen nicht existiert – und ist neurologisch bedingt. Dies bedeutet, dass es Unterschiede bei der Strukturierung in verschiedensten Bereichen des Gehirns gibt und Unterschiede in der Art, wie Neuronen miteinander verknüpft sind. Es gibt also einen physischen Unterschied, in der Art, wie sich das Gehirn entwickelt hat.  

Obwohl die Forschung sich dem oben genanntem sehr sicher ist, gibt es immer noch Stimmen, die die Ursache für Autismus zum Beispiel in Impfungen suchen. Dass das nicht richtig ist, ist wissenschaftlich bewiesen, dennoch hält sich das Gerücht hartnäckig. 
Genauso wie die vielerorts propagierten angeblichen Ursachen wie das Konsumieren von Milch (wie PETA 2014 behauptete) falsch und gefährlich sind, ist es auch die Suche nach einer „Heilung“. Dass allein der Gedanke, Autismus heilen zu können, faktisch inkorrekt ist, zeigt sich darin, dass Autismus keine Krankheit ist. Es gibt also Nichts, was geheilt werden könnte. Dies heißt natürlich nicht, dass Autist:innen nicht geholfen werden kann, sich besser in der neurotypischen Welt zurecht zu finden. Besonders Autist:innen mit einem hohen Hilfebedarf sind auf gute und nachhaltige Therapien angewiesen. Doch gibt es hier Ansätze, die nicht nur von der autistischen Community stark kritisiert werden, sondern zum Teil auch von Expert:innen. Eine solche ist die ABA-Therapie (Applied Behavior Analysis), die besonders in den USA viel Anklang findet. ABA hat das Ziel, Autist:innen so unautistisch wie möglich „zu machen“ und ist in Teilen mit der Konversionstherapie vergleichbar. Viele Autist:innen, die als Kind ABA machen mussten, erzählen von traumatisierenden Erfahrungen.  

Die Stimmen der autistischen Community werden oft und gerne überhört. Dies passiert nicht nur, wenn es um Kritik an einer bestimmten Therapieform geht, sondern auch, wenn Autist:innen sagen, wie sie genannt werden wollen. Die meisten Autist:innen bevorzugen eine identitätsbevorzugende Sprache: „Ich bin Autist:in“ im Vergleich zu der personenbevorzugten Variante „Ich habe Autismus“. Dieser kleine, aber feine Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass Autismus unsere Neurologie maßgeblich mit formt und strukturiert. Dementsprechend bestimmt er auch unsere Persönlichkeit und unsere Identität mit. Ohne meinen Autismus wäre ich ein anderer Mensch. Hinzu kommt, dass „Ich habe Autismus“ suggeriert, dass es sich um eine Krankheit handele.  

Kennst du eine:n Autist:in, kennst du nicht alle 

Kommt das Thema Autismus im Alltag zur Sprache, fallen oft die Namen Rain Man oder Sheldon Cooper. Beide sind ohne Frage Autisten, allerdings sehr stereotypische. Denn sie sind beide weiß, männlich und haben eine mathematische beziehungsweise naturwissenschaftliche Begabung. Diese stereotypische Darstellung wird in den meisten Filmen und Serien gewählt. Das ist nicht nur schade, sondern behindert die Diagnose und Anerkennung von untypischen Autist:innen. Auch nimmt diese nicht-Repräsentanz Autist:innen die Möglichkeit, sich mit fiktiven Charakteren identifizieren zu können. Das ist besonders dann von Wichtigkeit, wenn jemand keine Menschen hat, die einem ähneln oder die einen verstehen. Ich persönlich konnte mich immer sehr gut mit Sheldon Cooper identifizieren. Viele seiner Verhaltensmuster, die dramaturgisch zum Drüber-lustig-Machen ausgelegt waren, konnte ich nachvollziehen und -fühlen. Doch sind die wenigsten als Autist:innen geschriebenen Charaktere wirklich authentisch. Meist sind die authentischsten solche, die nicht autistisch konzipiert wurden. Wie unter anderem Newt Scamander aus Fantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind oder Saga Norén aus Die Brücke – Transit in den Tod. Bekannte autistische Menschen wie Greta Thunberg, Satoshi Tajiri (der Erfinder von Pokémon) und Anthony Hopkins helfen autistischen Menschen, sich weniger allein zu fühlen.   

Da Autismus ein Spektrum ist, welches nicht linear von „schwer“ zu „leicht“ verstanden werden darf, sondern vielmehr als ein Tortendiagramm, bei dem jedes Stück für ein mehr oder minder stark ausgeprägtes Merkmal steht, gibt es auch nicht „den“ oder „die“ Autist:in. Jede:r Autist:in hat seine:ihre eigene Autismus-Torte.  
Autistische Merkmale sind unter anderem: Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation, in der Interaktion und im Verständnis. Bei mir prägt sich das zum Beispiel so aus, dass ich nicht gerne Augenkontakt und Körperkontakt halte. Dies hat nichts mit Nicht-Können oder Nicht-Wollen zu tun, sondern ist es vielmehr sehr unangenehm für mich, Menschen in die Augen zu gucken oder von nicht sehr nahestehenden Menschen angefasst zu werden. Außerdem machen mir Ironie und Sarkasmus, oder Witze im Allgemeinen, oft Probleme. Dies können viele, die mich kennen, nicht verstehen, da ich selbst Ironie und Sarkasmus anwenden kann. Ich verstehe die Mechanik dahinter, verstehe es nur bei anderen oft nicht. So war ich zum Beispiel im vergangenen Sommer mit einer Freundin essen. Beim Eingang wollten wir unsere Adressen hinterlegen, aber ich war mit meinem Fuß etwas über die rote „Hier warten“-Linie getreten und der Kellner meinte daraufhin, dass wir jetzt leider nicht mehr reindürften. Ich war zutiefst erschüttert, bis meine Freundin anfing zu lachen und ich verstand, dass er bloß einen Witz gemacht hatte. Versteckte Botschaften im Gesagten kriege ich meist nicht mit.   

Ein weiteres autistisches Merkmal ist die andere Wahrnehmungsverarbeitung. So bin ich licht-, geruchs- und geräuschempfindlich. Schon im Kindergarten hatte ich mit chronischen Kopfschmerzen zu kämpfen, die auf eben diese Empfindlichkeiten zurückzuführen sind. Auch fällt es mir schwer, in großen und/oder lauten Runden Gespräche zu führen, da ich die anderen Gespräche um mich herum nicht ausblenden kann. Dies ist der Grund, warum ich bisher nur zweimal in einer Kneipe war.  

Intensive und spezielle Interessen, auch Spezialinteressen genannt, sind ebenfalls ein Merkmal von Autismus. Sie können ein paar Monate bis mehrere Jahre anhalten. Spezialinteressen können alles Mögliche seien und müssen sich nicht auf Züge beschränken. Meine längsten und ausgeprägtesten waren, in genau dieser Reihenfolge: Hunde, Harry Potter, die Geschichte der Native Americans (insbesondere der Oglala-Lakota Nation) und Naturwissenschaften (besonders Biologie und Physik). Doch das für mich am schwersten zu akzeptierende Merkmal ist das Bedürfnis nach Beständigkeit, da ich immer ein spontaner und abenteuerlustiger Mensch sein wollte. Doch selbst vermeintliche Kleinigkeiten können mich aus der Bahn reißen. So hat sich mein Freund einmal seinen ganzen Bart abrasiert (ich kannte ihn bis dato nur als Bartträger) und brachte mich damit völlig aus dem Konzept. Rational betrachtet wusste ich, dass er immer noch derselbe ist, aber dennoch konnte ich ihn nicht ansehen oder küssen, ohne das Gefühl zu haben, dass ein fremder Mann vor mir steht. Dieses Gefühl blieb, bis der Bart wieder einigermaßen nachgewachsen war. 

Auch ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn ist typisch für Autist:innen. So können kleine Lügen, wie die Weihnachtsmann-Lüge, für Autist:innen schwer zu ertragen sein. 

„Sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?“ 

„Sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?“ und „Ich bin manchmal so autistisch!“ sind nur zwei Beispiele von Sätzen, die ich in den letzten Jahren immer wieder gehört habe. Sie sind nicht nur falsch (entweder jemand ist es oder nicht), sondern auch gefährlich. Viele Autist:innen haben regelmäßig mit Ausgrenzung, Intoleranz und keiner Anerkennung ihres Autismus zu kämpfen. Solche Aussagen banalisieren jede autistische Erfahrung. Denn ASS ist mehr als jemanden nicht in die Augen gucken zu können, keinen Sarkasmus zu verstehen oder an Gewohnheiten verbissen festzuhalten. Nach dem DSM-5 und ICD-11 muss ein Leidensdruck vorliegen. Was bedeutet, dass Menschen aufgrund ihres Autismus im alltäglichen Leben eingeschränkt sind.  
Viele Autist:innen haben mit Overloads, einer Überladung beziehungsweise Reizüberflutung, zu kämpfen die dann in einem Shutdown, einem Dichtmachen, oder einem Meltdown, einem unfreiwilligen „Ausrasten”, enden können. Hält diese Überladung und Überforderung konstant an, mündet sie letztendlich in einem autistischen Burnout. 

Ohne Stigmatisierung in eine autismusfreundliche Zukunft 

Wie alles, was nicht richtig verstanden wird, ist auch Autismus im Käfig der Stigmatisierung gefangen. Doch wird der Käfig immer brüchiger und das ist allen Autismus-Advokat:innen zu verdanken, die unermüdlich analog und digital aufklären. Besonders zu erwähnen seien hier (persönliche Präferenz(!)) die AutistiCatsAutismus-Kult, Yo Samdy Sam und InsideAut, alles Autist:innen, die über Autismus sprechen. Doch darf es hier nicht aufhören! Es wird Zeit, dass die neurotypische Gesellschaft uns anerkennt, zu verstehen versucht und anfängt, nicht mehr nur von uns Anpassung zu erwarten, sondern auch von sich selbst. Das Leben als Autist:in in einer neurotypischen Welt ist schwer genug, das muss nicht noch durch aufgezwungenes, „gesellschaftskonformes“ Verhalten verstärkt werden. Gebt uns vielmehr die Freiheit, ein bisschen mehr wir selbst zu sein, ein bisschen mehr autistisch zu sein!  

Autor*in
Share.

Ein Kommentar

  1. Hallo, der Artikel ist an vielen Stellen faktisch falsch:

    – „[Das Puzzleteil] soll eine Anspielung auf das fehlende Stück, auf das, was Autist:innen nicht ganz vollständig macht, sein.“

    Das stimmt nicht, das Puzzlestück soll eine Anspielung auf die „puzzling“ Kondition Autismus sein, über die man Ende des 20. Jahrhunderts noch wenig wusste. Das heißt nicht, dass das Empfinden vieler Autisten, das Puzzlestück stelle sie falsch dar, falsch sei; aber die Intention der Erschaffer des Symbols war eben nicht was hier behauptet wird.

    – „Der Begriff Autismus besteht seit 1911 und umfasste lange hauptsächlich weiße Jungs, die ein stereotypisches Verhalten an den Tag legten. Es fand eine starke Kategorisierung nach niedrig- und hochfunktionalem Autismus statt.“

    Das ist nicht direkt falsch, aber eine sehr knapp zusammengefasste Darstellung der Geschichte von Autismus, die vieles vermengt, was nicht zusammengehört. Der Begriff „Autismus“ wurde 1911 von Eugen Bleuler geprägt, bezeichnete aber lange ein Symptom von Schizophrenie, keine eigene Kondition. Die ersten Untersuchungen von Autisten fanden 1926 (Grunya Sukhareva), 1943 (Leo Kanner) und 1938 (Hans Asperger) statt, dabei ging es nur teilweise um „stereotypisches Verhalten“, das Hauptproblem für die Kliniker war wohl eher dass die Kinder eben ‚autistisch‘ (= auf sich selbst bezogen) waren, und allerlei Entwicklungs- und Kommunikationsprobleme zeigten. Die Bezeichnung „weiße Jungs“ finde ich hier sehr suggestiv: Von den drei genannten Klinikern lebte nur Kanner in einem Land (den USA) in dem nicht die große Mehrheit der Bevölkerung weiß war, und das Problem der Vergeschlechtlichung (das ausschließlich Jungen autistisch diagnostiziert wurden) hatte vor allem Asperger, der sehr sexistisch an die Sache ging. Die Unterscheidung nach niedrigfunktionalem und hochfunktionalem Autismus wiederum findet sich frühestens ab den 1980er-Jahren. Davor kannte man nur den „niedrigfunktionalen“ Autismus.

    Beste Grüße

Leave A Reply