Jamie Cullum ist einer der hippsten Jazz-Künstler, der derzeit die Bühnen der Welt bespielt. Seine Alben sind mehrfach prämiert (unter anderen einen Grammy und zwei Golden Globes darf er sein Eigen nennen) und in seinem Heimatland England gilt er als erfolgreichster Jazz-Musiker. Einen Namen gemacht hat Cullum sich etwa mit Songs wie Everlasting Love und Don’t Stop The Music, einem Rihanna-Cover. Seine Musik lebt durch die einzigartigen Mischungen aus Jazz, Pop, Rock und anderen Einflüssen. Am 14. Juli 2019 war Jamie Cullum als einer der Headliner des Schleswig-Holstein Musik Festivals in der Sparkassen-Arena-Kiel zu Gast. DER ALBRECHT war vor Ort, um sich selbst ein Bild vom vielbeschworenen Genie des Künstlers zu machen.

Die erste Person, die an diesem Abend die Bühne betritt, ist nicht Cullum selbst, sondern einer der Veranstalter des Schleswig-Holstein-Festivals. Man freue sich sehr, Jamie Cullum für das Festival gewonnen zu haben. Es sei das erste Mal, dass der Brite in dem norddeutschen Bundesland auftreten würde. Verhaltenes Klatschen auf den Rängen. Aufregung liegt in der Luft, das merkt man, doch es ist eine geordnete Form der Aufregung. Das SH-Festival-Publikum – nicht unbedingt das jüngste – scheint diesen Abend als das genießen zu wollen, was das Jazz-Label des Künstlers nahelegt: Gediegen, ruhig, still genießend.

Zwei Stunden später: Der ganze Saal tobt. Und das ist tatsächlich wörtlich zu verstehen. Nach etwa der Hälfte des Konzerts hatte Cullum das Publikum, besonders jene auf den „billigen Plätzen“, dazu aufgefordert ihre Sitze zu verlassen und ihm vor der Bühne Gesellschaft zu leisten. Aus dem gutbürgerlichen Sitzkonzert ist ein Tanzspektakel geworden. Vorne auf der Bühne springt und hüpft Cullum, animiert zum Mittanzen und Mitsingen. Dass das bei diesem Publikum gelingt, ist allein seiner sprühenden Aura und dem fetzigen Gesamtklang seiner Stücke zuzuschreiben.

Der Verlauf von Jamie Cullums Konzert in der Sparkassen-Arena ist eine perfekte Metapher für die Musik des Ausnahmetalents. 2003 rauschte der damals Mitt-Zwanziger mit gleich zwei Alben in einem Jahr (!) (Pointless Nostalgic und Twenty Something) auf den Musikmarkt und etablierte sich als Energiebündel und „Rising Star“ der Jazz-Szene. Das Debüt war durchaus als Kampfansage zu verstehen, als Ausdruck einer neuen Generation von Künstler*innen, dem Genre neue Traditionen einverleiben zu wollen. Kaum ein Genre lebt so von der Sehnsucht nach den „Goldenen Jahren“, die Legenden wie Miles Davis, Louis Armstrong und Duke Ellington geprägt haben, wie der Jazz.

Der Weltruhm stellte sich für Cullum in den kommenden Jahren ein, mit Platten wie The Pursuit und Momentum, deren erklärtes Programm es war, Jazzmusik mit aktuellen musikalischen Tendenzen – am prominentesten darunter: Pop – zu vermählen. Auf dem Albumcover von The Pursuit ist Cullum vor einem explodierenden Klavier abgebildet – weg mit dem alten Ballast, das soll hier die Botschaft sein. Vor einigen Wochen erschien Cullums aktuellstes Album, Taller, welches diese Entwicklungen zu einem vorläufigen Höhepunkt führt.

Seitdem wurde dem 39-Jährigen immer wieder von Jazz-Kritikern vorgeworfen, „zu poppig“ zu sein, die eigenen Wurzeln aus den Augen verloren zu haben. Stimmen wie diese begleiten Jamie Cullum seit seinem Debüt. Doch dabei verliert man die ureigenen Qualitäten des Multiinstrumentalisten aus den Augen. Cullums ganz eigenes Kolorit besteht gerade darin, Altbewährtes aufzugreifen, anzureichern und in eine neue Form zu überführen – eine Form die Stadien zu füllen vermag und selbst Konzertmuffel dazu anhält, das Tanzbein zu schwingen.

An diesem kühlen Juliabend in der Sparkassen-Arena wird klar, woher dem Mann der Ruf als geborener Entertainer vorauseilt. Cullum fühlt sich wohl auf der Bühne und das lässt er das Publikum spüren. Während er zu Beginn noch vergleichsweise unaufgeregt einsteigt mit einem Medley seiner bekannten Songs Don’t Stop The Music und Save Your Soul, lebt er im weiteren Verlauf des Konzerts auf, fegt schließlich symbolisch den Klavierhocker beiseite und bestreitet weite Teile des Konzerts stehend. An einer Stelle steigt er auf das Klavier, dem er bisweilen trommelnd und saitenzupfend eine unerwartet groovige Stimme verleiht, und springt wie eine Heldenfigur auf die Bühne hinab.

Die Bühnenpräsenz geht dabei nicht auf Kosten der musikalischen Qualität. Cullum und seine Band sind ideal aufeinander eingestimmt, der Gesamtklang ist an diesem Abend studioreif. Besonders charmant gebärden sich die beiden Backgroundsängerinnen, die deshalb auch prominent in der Bühnenmitte platziert sind. Immer wieder nimmt sich Cullum die Zeit, selbst einmal in den Hintergrund zu treten und seine Bandkolleg*innen für ihre Soli in den Vordergrund zu rücken. Und auch für die ein oder andere Anekdote nimmt er sich Zeit. So berichtet er von seiner jüngsten Teilnahme am Bootshafensommer und entschuldigt sich im Vorfeld seines politisch gefärbten Stückes Mankind für den Wahnwitz des Brexits. Er ist einfach sympathisch, dieser Mann.

Als übergreifende Struktur ist das Konzert durch eine geschmackvoll abgestimmte Setlist zusammengehalten. Cullum jongliert Songs aus jeder einzelnen seiner Schaffensphasen und bringt damit sowohl Neueinsteiger als auch alteingesessene Fans auf seine Kosten. Natürlich kommt dabei die ganz frisch veröffentlichte Platte nicht zu kurz. Monster etwa ist darunter, ein Stück, das er nach eigenen Angaben an diesem Abend zum ersten Mal live spielt, weil es „ihm einfach zu kompliziert sei“ und das nachdenklich-melodische The Age of Anxiety. Zum Abschluss präsentiert Cullum mit Mixtape eine an Intensität zunehmende Hymne und überlässt dem Choral aus dem Publikum den Ausklang des Abends.

Dann passiert etwas Erstaunliches: Der Choral endet nicht. Kanonartig wird er im Saal hin- und hergeworfen, begleitet vom rhythmischen Klatschen der Menge. Jamie Cullum hat das Herz des eigentlich so reservierten norddeutschen Publikums gewonnen und so leicht will es ihn jetzt nicht mehr freigeben. Sichtlich gerührt betritt Cullum für eine zweite Zugabe die Bühne. Zur Melodie des Presley Songs So Glad You’re Mine trägt er ein improvisiertes Ständchen auf Schleswig-Holstein vor. Zu Beginn des Konzerts hatte der Veranstalter an eine Anekdote von Leonard Bernstein erinnert: „I fell in love with Schleswig-Holstein“, soll dieser gestanden haben, „even though I cannot pronounce it correctly.“ Jamie Cullum hat an diesem Abend keinerlei Probleme mit der Aussprache.

Autor*in

Frederik ist 25 Jahre alt und studiert an der CAU Gegenwartsliteratur und Medienwissenschaft im Master. Er ist seit April 2019 Teil der Redaktion des Albrechts.

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