55 Jahre blieb To Kill A Mockingbird Harper Lees einziger Roman. Jetzt wurde Go Set A Watchman veröffentlicht. Ein Roman, der die Geschichte seines mit dem Pulitzer Preis ausgezeichneten Vorgängers fortsetzt – und dabei alte Heldenbilder dekonstruiert.

20 Jahre sind seit den Geschehnissen von To Kill A Mockingbird (dt. Titel: Wer die Nachtigallen stört) vergangen. Aus der Protagonistin Jean Louise Finch, die wir unter dem Namen Scout kennengelernt haben, ist eine erwachsene Frau geworden. Ihr Spitzname, wie auch viele weitere Elemente des ersten Buches, gehören der Vergangenheit an. Ihr Kindheitsfreund Dill lebt mittlerweile in Europa und ihr älterer Bruder Jem starb an der Herzkrankheit, an der zuvor bereits ihre Mutter gelitten hatte. Auch die afro-amerikanische Haushälterin Calpurnia, mittlerweile eine alte Frau, arbeitet nicht mehr für die Finches.

Cover der amerikanischen Erstausgabe.
Cover der amerikanischen Erstausgabe.

Jean Louise, die mittlerweile in New York lebt, kehrt für den Sommer in das Provinznest Maycomb, Alabama zurück. Dort sieht sie sich, wie bereits in To Kill A Mockingbird, mit den Erwartungen an ihre Geschlechterrolle konfrontiert, denen sie nicht gerecht werden kann. Doch nicht allein darin äußert sich Jean Louises Entfremdung mit der alten Heimat: Sie findet heraus, dass ihr Vater Atticus Finch sich für die Bewahrung der Rassentrennung einsetzt. Dadurch gerät ihr Weltbild, das sich vor allem aus den progressiven Weisheiten ihres Vaters zusammensetzte, ins Wanken.

Bereits im Vorfeld der Publikation des Romans löste Go Set A Watchman (dt. Titel: Gehe hin, stelle einen Wächter) einige Debatten aus. Zum einen wurde diskutiert, wie viel Mitspracherecht Harper Lee bei der Herausgabe des Buches hatte. Die Autorin, die mittlerweile im hohen Alter zurückgezogen in ihrem Geburtsort Monroeville, Alabama lebt, veröffentlichte außer To Kill A Mockingbird keinen weiteren literarischen Text und hatte nach eigenen Aussagen auch niemals vor, einen neuen Roman zu schreiben. Tatsächlich handelt es sich bei Go Set A Watchman um einen frühen Entwurf ihres späteren Welterfolges. Das Manuskript wurde auf Wunsch der Lektorin überarbeitet, bis schließlich To Kill A Mockingbird daraus resultierte.

Doch nicht allein die Publikationsgeschichte sondern auch die zentrale Figur erregte in der ersten Rezeption des Romans Aufsehen. Der Anwalt Atticus Finch wurde durch seine Handlungen in To Kill A Mockingbird Sinnbild für den Kampf gegen den Rassismus im Zuge der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. In dem langen Zeitraum zwischen der Veröffentlichung beider Romane hatte die Romanfigur Zeit, als Heldenbild in das kollektive Gedächtnis einzugehen. Dass gerade diese Figur sich nun als Rassist entpuppt, stößt schwer auf. Die Leserschaft sieht sich ebenso wie die Protagonistin des Buches vor die Aufgabe gestellt, mit der Dekonstruktion ihres Helden umzugehen. Dass viele Kritiker mit Ablehnung auf den Roman reagieren, ist nicht verwunderlich.

Doch gerade dieser Umstand bewirkt eine bemerkenswerte Erzählung, denn Go Set A Watchman ist in erster Linie die Geschichte der Emanzipation einer jungen Frau von ihrer idealisierten moralischen Instanz, die sich in ihrem Vater manifestiert. Es ist die Geschichte eines Übergangs von einem rassistischen und sexistischen zu einem modernen Amerika.

414_04719_160604_xlTitel: Gehe hin, stelle einen Wächter
Autorin: Harper Lee
Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Preis: 19,99 Euro
Verlag: DVA Belletristik
Veröffentlichung: 17. Juli 2015

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