Ich habe mir bisher nie näher darüber Gedanken gemacht, wie es ist, in Deutschland nicht als Teil der Gemeinschaft angesehen zu werden. Warum auch? 

Ich bin in diesem Land geboren und ich definiere mich unbewusst als Deutsche. Das sehen alle anderen auch so. Hört sich erstmal merkwürdig an, wenn ich mich selbst so schlicht beschreibe.  

Doch nun bin ich darüber gestolpert, dass es Menschen in meiner eigenen Bubble gibt, die sich nicht so einfach definieren können. Was ich damit eigentlich meine, möchte ich gerne mit der Geschichte meines guten Freundes Göksel deutlich machen. Ich habe mich mit ihm getroffen, um über seine Identität zu sprechen und zu erfahren, wie er sich als Kieler mit türkischen Wurzeln fühlt. Denn er zerbricht sich schon sein Leben lang den Kopf über die Frage: Wo gehöre ich hin?  

Sein Päckchen  

Göksel ist 39 Jahre alt, wurde in Kiel geboren und lebt schon immer in diesem Land. Er hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Seine Eltern kommen beide aus der Türkei, sein Vater aus Karaman und seine Mutter aus Adana. Göksels Mutter kam 1970 offiziell als Gastarbeiterin nach Deutschland, um ihre Familie finanziell unterstützen zu können. Sein Vater plante, ab 1974 für einen bestimmten Zeitraum in Schleswig-Holstein zu arbeiten, um Geld für ein eigenes Taxi zu sparen – und reiste nun ebenfalls nach Kiel. Göksels Eltern lernten sich erst hier kennen. Aus dem ursprünglichen Plan des Vaters, maximal fünf Jahre hier zu verweilen, wurde ein dauerhaftes Leben in Kiel, eine Ehe und ein Sohn.  

Mit Göksel habe ich darüber gesprochen, wie er sich definiert. Ob er sich selbst eher als Türke oder Deutscher sieht. Möglicherweise auch beides. Denn er erzählte mir, dass er in diesem Land ausschließlich als „der Türke“ bezeichnet wird. Doch immer, wenn er den Sommer einige Monate in der Türkei verbrachte, ist er dort nur „der Deutschländer”. Diese Bezeichnung gilt für ihn natürlich eher als Abwertung. In beiden Ländern wird er wie ein Gast angesehen. An keinem Ort ist er vollends zu Hause.  

Was macht dieses Gefühl mit ihm, nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft akzeptiert zu werden? Er sieht sich immer nur als Besucher im jeweiligen Land. Und das darf nicht sein.  

Vor fast 23 Jahren hat Göksel sich dazu entschieden, offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Er ist somit Deutscher, genau wie ich. So einfach ist es aber nicht. Denn kein Pass dieser Welt kann einem selbst das Gefühl vermitteln, dazuzugehören, wenn die Realität ganz anders aussieht. 

Er ist weiterhin, wie viele andere Menschen, rassistischen Äußerungen ausgesetzt. Zum Beispiel, als er von jemandem hört, dass er „sowas wie ihn am liebsten tot sehen würde“. Oder als er eine neue Wohnung sucht und aufgrund seines Erscheinungsbildes die Tür vor der Nase zugeknallt bekommt mit den Worten: „Keine Flüchtlinge!“. Dies erzählte er mir aus den jüngsten Erfahrungen, die das Leben für ihn bereithielt. Kleine Anekdoten wie diese hat er zuhauf.  

Das Päckchen minimieren 

Was können wir also tun? Wir sollten sensibel hinschauen und nicht vorschnell urteilen. Kein Pauschalisieren. Offen auf die Menschen, die uns im Alltag begegnen, zugehen und sie nicht in eine Schublade stecken. Weiterdenken. Jede:r sollte sich hinterfragen, ob die eigenen Ansichten noch in das Jahr 2021 passen. Oder ob alte Gewohnheiten aufgebrochen werden können, die durch tiefe Verankerungen im Plenum des Landes geprägt sind. Es fängt schon im Kleinen an. Ein Wort, ein Satz oder eine unbedachte Frage. 

Mir geht es nicht darum, zu predigen, dass wir uns alle absolut richtig verhalten müssen. 100 Prozent politisch korrekt kann auch ich nicht immer sein. Aber jede:r sollte sich hier wohlfühlen können und jede:r verdient das Gefühl von Heimat. Für mich reicht eine schlichte Definition meiner eigenen Identität nun nicht mehr aus. Niemand definiert sich ausschließlich über die Staatszugehörigkeit. Doch es ist offensichtlich, dass dieser Aspekt für Göksel deutlich mehr Gewichtung hat als für mich, da er darauf reduziert wird.  

Ich wurde nie als Gast in dem Land, in dem ich geboren wurde, angesehen. Mir wird immer klarer, dass es nicht so einfach ist, wie ich mich anfangs selbst beschrieben habe. Nicht für jede:n. Denn Identität ist niemals einfach. 

Es geht um die individuelle Geschichte wie die von Göksel und seiner Familie, die sich aufgrund des Verhaltens anderer nie ganz selbst definieren können. Ich gehöre zu einer Gesellschaft, die es ihm und vielen anderen schwer macht, sich zu Hause zu fühlen. Wir sollten überlegen, was wir tun können, um dieses Gefühl in ein positives zu verändern. Denn noch fehlt das ‚Wir‘. Dieses Gefühl des Zusammenhalts. Die Gemeinschaft.

Ich kann nicht glauben, dass wir diese Diskussion im Jahr 2021 immer noch führen müssen.  

Autor*in

ist seit November 2020 Teil der ALBRECHT-Redaktion und hatte von 2021 bis 2022 den Ressortleitungsposten der Kultur inne. Seit WiSe 2020/21 studiert sie Deutsch und Soziologie.

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