Noch bis zum 19. Dezember wird im Kieler Opernhaus das diesjährige Weihnachtsmärchen Der Zauberer von Oz gezeigt. Eine Produktion basierend auf dem 1900 erschienenen Kinderbuch The Wonderful Wizard of Oz von Lyman Frank Baum, wahrscheinlich aber am bekanntesten durch den im Jahre 1939 erschienen Film mit Judy Garland. Zugegeben, das Weihnachtsmärchen ist für Kiels kleinste Bürger*innen gedacht und soll für sorgenfreien Spaß in der Vorweihnachtszeit sorgen. Und auch die Originalverfilmung war damals wohl hauptsächlich als farbenfroher Zeitvertreib gedacht. Doch was dann daraus wurde, damit hatte wohl niemand gerechnet.

Ein Stückchen Oz im Weltkrieg

Es ist das Jahr 1939, ein neuer Krieg kündigt sich schon länger aus Europa an. Das amerikanische Heer macht sich bereit und versammelt seine Truppen. Jeder Mann wird gebraucht. Nun, fast jeder. Denn Homosexualität ist im US-Militär, genau wie in der Mehrheit aller anderen, verboten und endet mit sofortiger, unehrenhafter Entlassung und allerlei unangenehmen und häufig existenzbedrohenden Folgen. Dazu kommt die berechtigte Furcht davor, was passiert, wenn die Kameraden mitbekommen, was Sache ist. So einige haben diese Art von Konfrontation nicht überlebt, ganz zu schweigen davon, was ‚aus Versehen‘ alles auf dem Schlachtfeld passieren kann. Ein Outing im Militär war definitiv keine Option. Die Karten bereits bei der Musterung auf den Tisch zu legen und gar nicht erst aufgenommen zu werden, bedeutete allerdings, einen Eintrag in seine Akte zu bekommen, was auch nicht viel besser war. Die beste und vermutlich einzige Lösung: Kopf einziehen und den Mund halten, niemanden merken lassen, wer du bist, wen du liebst.

So oder so ähnlich könnte der Gedankenprozess eines Mannes ausgesehen haben, der auf Grund seiner Sexualität nicht im Militär willkommen war und trotzdem gebraucht wurde. Womit niemand gerechnet hatte, war jedoch die Veröffentlichung von The Wizard of Oz. Ein Film, in dem der Hauptcharakter Dorothy eine Schar von Ausgestoßenen um sich versammelt, die nicht in das von der Gesellschaft für sie vorgesehene Muster passen. Ein Löwe ohne Mut? Unvorstellbar. Und doch war er ein Freund für Dorothy. Eine Analogie zur Situation derer, die damals nicht so recht ins Muster passten. Viele der Soldaten hatten diesen Film wohl kurz vor ihrem Einzug gesehen und er war noch frisch in ihren Köpfen, denn was sich in Europa unter den englischsprachigen Soldaten entwickelte, war ein direktes Resultat des Filminhaltes. „Are you a friend of Dorothy?” wurde zu einem Geheimcode, genutzt von schwulen Männern, um sich unverfänglich und gefahrlos über die Sexualität ihres Gegenübers zu erkundigen. Entweder wusste der Gefragte nicht um die Schwere der Frage und verneinte, oder er war Teil der Gruppe und wusste sofort, mit wem er sprach.

Dorothy lebt!

Der Code weitete sich nach Ende des Krieges in ganz Amerika und auch England aus. Über Jahrzehnte, in denen es gefährlich war, seine wahre Identität öffentlich preiszugeben, wurde diese Frage genutzt, um Personen aus der eigenen Gruppe in öffentlichen Zusammenkünften zu identifizieren.

In den frühen 1980er Jahren bekamen zum ersten Mal staatliche Behörden Wind von Dorothy: Der Naval Criminal Investigative Service (NCIS) entdeckte im Rahmen seiner Untersuchungen, dass mutmaßliche homosexuelle Militärangehörige alle mit einer Dame names Dorothy befreundet zu sein schienen. Doch trotz einer groß angelegten Suchaktion konnte die besagte Dame nie gefunden werden.

Heute sind solche Codes — glücklicherweise — in weiten Teilen der Welt nicht mehr von Nöten. Was bleibt, ist jedoch ein Film, der uns viel beibringen kann, ganz gleich, welcher Sexualität oder Identität wir uns zugehörig fühlen mögen. Wenn ein Bauernmädchen aus Kansas zu Beginn des 20. Jahrhunderts über gewohnte Denkmuster hinaussehen und Arm in Arm mit ihren neuen und andersartigen Freund*innen den gelben Steinweg hinunter tanzen kann, dann können wir das auch. Und wenn Dorothys Freundinnen am Ende der Geschichte entdecken, dass sie nicht die Hilfe eines Zauberers benötigen, um genau so zu sein, wie sie sein sollten, sondern nur daran erinnert werden müssen, dass sie es die ganze Zeit schon waren, dann ist das eine Erinnerung daran, dass wir ebenfalls alle genau das sind, was wir sein sollen.

Autor*in

Janne ist seit 2019 Teil der Albrecht-Redaktion, zunächst als Leitung des Kulturresorts und Social Media, dann bis Anfang 2024 für ein Jahr als stellvertretende Chefredaktion.

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