Wer einem alten Mann begegnet, der erzählt, wie er vor 40 Jahren in die Wüste Mexikos gezogen ist, um der größte Revolverheld aller Zeiten zu werden, hat es entweder mit einem Verrückten zu tun oder mit dem inzwischen 81-jährigen Comicautor Alejandro Jodorowsky. Allerdings lässt dessen Lebenswerk durchaus die Frage zu, ob in seinem Kopf alles mit rechten Dingen zugeht: 1970 schuf er als Regisseur und Hauptdarsteller in Personalunion den Kultfilm „El Topo“ (deutsch: „Der Maulwurf“), indem er als Meisterschütze durch den wohl durchgeknalltesten Western der Filmgeschichte zieht; Zu Beginn der Achtziger tauschte er dann Drehbuch gegen Comicskript und drehte erst so richtig auf.

Keine Arme, keine Kekse? „Alef-Thau“

Im Frühwerk „Alef-Thau“ geht es noch einigermaßen gemäßigt zu, trotz detailverliebter Fantasywelt inklusive skurriler Fauna und Alienbesatzung. Die Befreiung von Letzterer legt allerdings gerade dem jungen Alef-Thau, der ohne Gliedmaßen geboren wurde, ein Orakel auf und für den damit eine abenteuerliche Odysee beginnt. Mit dem dieser Tage erscheinenden zweiten Band der Gesamtausgabe liegt das von dem Künstler Arno illustrierte Epos erstmals vollständig auf deutsch vor. Sie enthält die Alben 4-8 der Saga, inklusive der Originalcover, deren Kitschigstes man leider, wie bereits beim ersten Band, zum Titelbild erkor. Dennoch ein Klassiker des fantastischen Comics in angemessener Aufmachung, wenngleich auch noch nicht die Krone der Schöpfung im Schaffen des Maulwurfs.

Umarme das Chaos: „Lust & Glaube“

Zu großer Form läuft Jodorowsky nämlich immer dann auf, wenn er mit der französischen Zeichnerlegende Moebius zusammenarbeitet. Dies beweist die Trilogie „Lust & Glaube“, die nun ebenfalls in einer Gesamtausgabe neu aufgelegt wird. Im Mittelpunkt steht hier Philosophieprofessor Alain Mangel, der in einer geordneten Welt mit selbstauferlegtem Zölibat lebt. Als seine Frau ihn verlässt und er den Reizen der jungen Elisabeth erliegt, bricht aber die Hölle los: Seine verdrängte Libido verfolgt ihn in Form eines grünleuchtenden Dämons und Elisabeth entpuppt sich als religiöse Fanatikern, die glaubt durch seinen Samen einen neuen Heiland zu empfangen. Als sie Alain dann auch noch nötigt, die Tochter eines Drogenbarons aus dem Irrenhaus zu entführen, weil sie in ihr die Reinkarnation der heiligen Maria sieht, gibt es kein Halten mehr. Vor allem nicht für Jodorewsky und Moebius.

Was das kongeniale Gespann hier vom Stapel lässt, spottet jeder Beschreibung: Ätzende Religions- und Gesellschaftssatire wird mit deftigen Sexszenen und echten Wundern in Höhen gestapelt, die wohl nur wenige Künstler je erreichten. Leider wählt Jodorewsky im finalen Kapitel nicht den Weg ins Kosmische, der sich bis hierhin ankündigte, sondern steuert zur Auflösung in vergleichsweise konventionelle Gewässer. Einer mysthischen Mär von der maskulinen Selbstfindung folgen harmlose Angriffen auf das Bürgertum und eine harmlose Pointe. Als hätte den begnadeten Querkopf plötzlich die Altersmilde befallen.

Alles auf Anfang: „Showman Killer“

Hält man allerdings Jodorewskys jüngstes Werk „Showman Killer“ in den Händen, möchte man dieses Urteil sofort revidieren. Der Maulwurf hat sich hier Nicolas Fructus als jungen Zeichensklaven rangepfiffen und ihm eine Szenario in die Feder diktiert, das wie ein blutverschmierter Zerrspiegel von „Star Wars“ wirkt: Die Titelfigur ist dann auch ein Jedi-Ritter aus der Gosse, dem jegliche Gefühle operativ entfernt wurden und der seine Dienste stets dem Höchstbietenden zur Verfügung stellt. So meuchelt er sich durch ein atemberaubendes Sience-Fiction Szenario mit Zeichnungen von verkommener Schönheit, das auf lediglich 55 Seiten aber bestenfalls vermuten lässt, wohin sich die Story schließlich entwickeln soll. Drannbleiben will man nach diesem Auftakt aber auf jeden Fall. Außerdem beweist er, dass Jodorewski auch mit 81 nichts von seinem Biss verloren hat. Und das ist, trotz der Qualität der einzelnen Werke, vielleicht die schönste Erkenntnis, die wir aus dem Monat des Maulwurfs mitnehmen können.

Alejandro Jodorowsky/Arno/Covial: Alef-Thau – Gesamtausgabe 2. Ehapa Comic Collection. 198 Seiten (farbig), Hardcover. 29,99 Euro.
Alejandro Jodorowsky/Moebius: Lust und Glaube – Gesamtausgabe. Schreiber & Leser. 192 Seiten (farbig), Hardcover. 29,80 Euro.
Alejandro Jodorowsky/Nicolas Fructus: Showman Killer Bd.1 – Ein Killer ohne Herz. Ehapa Comic Collection. 55 Seiten (farbig), Hardcover. 13,99 Euro.


Comics des Monats:

Gestern Noch
Titel: Gestern Noch. 3.300 km.
Autor: Asja Wiegand.
Verlag: Schwarzer Turm. 46 Seiten (s/w), Hardcover. 9,80 Euro.
Wertung: ★★★★★

Asja Wiegands „Gestern noch“ ist einer dieser Comics, die auf den ersten Blick mal so gar keinen Eindruck machen. Schmaler Band mit geringer Seitenzahl, schlichte Zeichnungen in Schwarzweiß, Erstveröffentlichung als Internetblog – spektakulär geht anders. Gleiches gilt für den Inhalt, die autobiographischen Alltagsgeschichten einer jungen Frau, in ein kleines Reisetagebuch mündend. Und dabei handelt es sich natürlich nicht um einen spirituellen Selbstfindungstrip oder eine humanistische Hilfsaktion, sondern um eine simple innereuropäische Ländertour. „So weit, so lahm“, denkt man sich spätestens jetzt, doch Wiegands Erzählung entfaltet schnell Charme und Wahrhaftigkeit, die Lebensfreude aus jedem Strich sprühen lässt. Die einzelnen Szenen verbinden sich zu einem so authentischen wie humorvollen Selbstbild, dem nur hartgesottenste Zyniker Banalität unterstellen würden. Anders als im Fernsehen, wo man den Terminus „Reality“ nur bemüht um dem Zuschauer absurde Reisbrettkonstruktionen als echt zu verkaufen, ist man sich hier sicher: So ist das Leben, so sieht es aus, so fühlt es sich an. „Gestern Noch“ ist mehr als ein Kleinod, er ist (im November darf man das schon mal sagen) der beste deutschsprachige Comic des Jahres. Auch morgen noch.


Nietzsche
Titel: Nietzsche
Autor: Michael Onfray (Skript), Maximilien Le Roy (Zeichnungen).
Verlag: Knaus Verlag. 128 Seiten (farbig), Hardcover. 19,99 Euro.
Wertung: ★★★

Beim Barte des Propheten! Da kann Friedrich Nietzsche noch so krasse Thesen aufgestellt haben, wer je eine Fotographie des Philosophen sah, hat vor allem eine Frage: Wie konnte der Mann eigentlich essen, wo doch ein überdimensionaler Schnäuzer fast die ganze untere Hälfte seines Gesichts bedeckte? Die Antwort darauf bleiben uns Michael Onfray (selbst Philosoph und Autor des Bestsellers „Anti-Freud“) und Maximilien Le Roy in dessen Comicbiographie schuldig, schwelgen dafür aber in Zeichnungen, die nicht nur die Gesichtsbehaarung Nietzsches voll zur Geltung bringen. An Illustrationen des frühen 20. Jahrhunderts orientiert, rollen sie die Lebensgeschichte des Chefdenkers auf. Dabei ist es den Beiden hoch anzurechnen, dass sie nicht der allgemeinen Unart folgen, eine geschriebene Biografie in Comicform pressen zu wollen, indem sie die Bilder unter Unmengen Text begraben. Das Vertrauen auf die Optik führt aber auch dazu, dass Nietzsches Leben und vor allem sein Werk auf 127 Seiten nur angerissen werden können. Neue Erkenntnis immerhin: Als es mit dem guten Friedrich zu Ende ging, hatte sein Schnauzbart solche Ausmaße angenommen, dass er locker als Antje-das-Walross-Imitator hätte durchgehen können.


Zahra‘s Paradise
Titel: Zahra’s Paradise
Autor: Amir (Skript), Khalil (Zeichnungen).
Verlag: Knesebeck. 272 Seiten (s/w), Hardcover. 19,90 Euro.
Wertung: ★★

Bei den Präsidentschaftswahlen im Iran hatte man ja schon häufiger das Gefühl, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Die Wiederwahl Mahmud Ahmadinedschads im Jahr 2009 kam für das iranische Volk aber einer Wahlfälschung gleich und hatte erbitterte Proteste zur Folge. „Zahra‘s Paradise“ (benannt nach einem Friedhof in Teheran) erzählt vor diesem Hintergrund die Geschichte des 19jährigen Mehdi, der auf einer Demonstration plötzlich vom Erdboden verschwindet. Für seine Familie der Beginn einer nahezu aussichtslosen Suche, die durch die Mühlen von Bürokratie und Justiz führt. Basierend auf dem gleichnamigen Blog (www.zahrasparadise.com), gibt der Comic erschütternde Einblicke in die Brutalität des iranischen Regimes und die Hilflosigkeit der einfachen Bürger. So wenig sich die inhaltliche Relevanz anzweifeln lässt, mangelt es aber doch über weite Strecken an der künstlerischen Umsetzung. Nur selten finden sich eindrucksvolle, zumeist karikierende Bildkompositionen. Stattdessen wirkt der Comic über weite Strecken wie ein spärlich illustrierter Blog und wird auf diese Weise zu einer äußerst mühsamen Lektüre. Wenn Textkästen und Dialoge die Zeichnungen unter sich begraben, findet auch der Lesefluss eine viel zu frühe Ruhestätte auf „Zahra‘s Paradise“.


Drachenläufer
Titel: Drachenläufer
Autor: Tommaso Valsecchi (Skript), Fabio Celoni/Mirka Andolfo (Zeichnungen).
Verlag: Bloomsbury Berlin. 132 Seiten (farbig), Softcover. 16,00 Euro.
Wertung: ★★★★

2003 veröffentlichte Khaled Hosseini den Roman „Drachenläufer“, von dem weltweit 21 Millionen Exemplare verkauft wurden. 2007 wurde er verfilmt, nun folgt die Comicversion. Wenngleich auch hier Hosseinis Name auf dem Cover prangt, war der Autor selbst an der Adaption nicht beteiligt. Die besorgte der Italiener Tommaso Valsecchi, der sich ungerechterweise mit einer kleingedruckten Nennung im Impressum begnügen muss. Allerdings lehnt sich seine Geschichte auch sehr nah an Hosseinis Original an: Im Afghanistan der 1970er überwindet die Freundschaft der Zwölfjährigen Amir und Hassan ihre Standesunterschiede, bis sie an der Feigheit Amirs zerbricht. Als dieser nach Amerika flieht, verliert er Hassan aus den Augen, sieht sich Jahre später aber gezwungen, in die ihm mittlerweile entfremdete Heimat zurückzukehren und seine Schuld zu begleichen. Der Sinn hinter einer solchen Drittauswertung des Romans sei hier einmal dahingestellt, aber das Ergebnis weiß zu überzeugen. Bis auf das etwas gehetzte Ende ist eine beispielhafte Kompression der Geschichte gelungen, deren Zeichnungen und Kompositionen es eindrucksvoll gelingt, die Handlung voranzutreiben. Kurz: „Drachenläufer“ ist eine der besten Literaturadaptionen, die in gezeichneter Form zu haben ist. Vor allem deshalb, weil das Ergebnis nie den Eindruck macht, je etwas anderes als ein Comic gewesen zu sein.


„Zeit zu lieben, Zeit zu slashen“
Titel: Hack/Slash Bd.6 – Zeit zu lieben, Zeit zu slashen
Autor: Tim Seeley (Skript), Emily Stone, Kevin Mellon, Ross Campbell, Mike Dimayuga (Zeichnungen).
Verlag: Cross Cult. 186 Seiten (farbig), Hardcover. 19,80 Euro.
Wertung: ★★

Jeder Superheld gerät zumindest einmal in seiner Karriere an den Punkt, wo er alles hinschmeissen und wieder ein normales Leben führen will. Jetzt hat es auch Cassie Hack erwischt, die einst als „last-girl-standing“ einem Serienkiller entkam und es sich seitdem zur Aufgabe gemacht hat, mit ihrem monströsen Partner Vlad Jagd auf all die maskierten Mörder dieser Welt zu machen. Die psychologische Tiefe steht dem „gefeierten Popkultur-Chick“ (Zitat Klappentext) durchaus gut zu Gesicht, wird aber beträchtlich dadurch unterminiert, dass die fünf hier versammelten Geschichten mittlerweile von allerlei übersinnlichem Gesocks wie sprechenden Alien-Hunden oder untoten Hard-Rock-Gitarristen bevölkert werden. Zudem liegt das Niveau der Zeichnungen bisweilen deutlich unter blutiger Poesie, die das Cover verspricht: Vor allem Emily Stones Beitrag „Mörderische Gedanken“ liegt deutlich unter dem Niveau der Serie. Am Ende ist Cassie Hack natürlich wieder zurück auf ihrem Posten und zeigt uns dann noch einmal eindrucksvoll ,was wir an ihr haben: Wer würde es denn sonst mit einem durchgeknallten Killer aufnehmen wollen, der nur am Murmeltiertag mordet (!) und versucht auf einer Tupper-Party (!!) ein Blutbad unter Hausfrauen anzuzetteln? Na eben.


Wiederveröffentlichung des Monats

„Canardo“
Titel: Ein Fall für Inspektor Canardo Bd.1
Autor: Sokal.
Verlag: Schreiber & Leser. 143 Seiten (farbig), Hardcover. 22,80 Euro.
Wertung: ★★★★

Ein streunender Hund sucht nach den Mördern seiner ehemaligen Geliebten. Eine Katze erfährt, dass ihr Vater ein sibirischer Tyrann ist und erlebt eine Familienzusammenführung der desaströsen Art. Und ein Zirkusbär läuft Amok, sobald er das Lied „Lili Marleen“ hört. Drei Fälle für Inspektor Canardo den versoffenen Erpel, dem die Kippe so angewachsen im Mundwinkel hängt wie einst Humphrey Bogart. Seine ersten drei Fälle übrigens, die lange nur antiquarisch erhältlich waren und jetzt in einem Sammelband neu aufgelegt werden. Trotz einem Alter von 30 Jahren ist das groteske Geschehen immer noch für einen handfesten Schock gut: Keinem Zeichner gelingt es wie dem Belgier Sokal seinen Hunden- oder Katzenfiguren eine derartige Bösartigkeit ins Gesicht zu schreiben. Von einem melancholischen Protagonisten, dem die Lebensüberdüssigkeit nur so aus den Augen tropft, mal ganz abgesehen. Kein Wunder, stolpert er doch von der einen in die nächste Tragödie und kann am Ende kaum mehr tun, als die Leichen aufsammeln und sich wieder in seine Stammkneipe zu verkriechen. Hätte diese Ente nicht einen knochentrockenen Humor, diese Ausnahmeerscheinung des Comics wäre von Anfang an kaum zu ertragen gewesen.

Autor*in

Janwillem promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft. Er schreibt seit 2010 regelmäßig für den Albrecht über Comics und Musik, letzteres mit dem Schwerpunkt Festivalkultur.

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