Teenager Doug leidet. In seinem Fieberwahn vermischen sich Visionen und Erinnerungen zu einem verstörenden Brei, in dem eine desolate Vater-Sohn-Beziehung und zum Scheitern verurteilte Liebe als Hauptzutaten fungieren. Hinzu kommen wiederkehrende Bilder von Schweineföten und Rasierklingen. Und Eiern. Seltsamen Eiern.

Ausgebrütet hat diese der amerikanische Zeichner Charles Burns („Black Hole“), der mit „X“ seine neue Comictrilogie eröffnet. Burns Vorliebe für düstere Bilderwelten ist bekannt, ebenso seine tiefpessimistische Weltsicht, in der Hoffnung und Freude lediglich als Auslöser von Leid und Verderben ihre Legitimation besitzen. Zwar steht dieser Nihilismus seinem neuen Werk auch diesmal wieder fabelhaft zu Gesicht (schwarz ist halt kleidsam), doch ist es vor allem die Erweiterung der optischen Palette, die „X“ so bemerkenswert macht. Dafür ersetzte Burns seine charakteristischen, harten schwarz-weiß Kontraste durch eine stimmungsvolle Kolorierung und bricht zuweilen mit seinem realistischen Zeichenstil.

So wird ein wiederkehrender Traum Dougs im stark simplifizierten Stil der „Ligne Claire“ dargestellt, die der belgische Zeichner Hergé mit seinen „Tim und Struppi“-Comics populär machte. Burns erweist sich hier als meisterhafter Kenner des Vorbilds, der selbst Dougs Haartolle der markanten Frisur des Vorbilds nachempfindet. Lediglich der Hund fehlt, was aber nur konsequent ist: Der beste Freund des Menschen – in Burns Welt hat er nichts zu suchen. Wenn Doug nun im putzigen „Ligne Claire“-Look durch eine bedrohlich Traumwelt wandelt, die an einen pervertierten orientalischen Basar voller Reptilien und Parasiten erinnert, entwickelt sich gerade aus dem Widerspruch zwischen kindgerechter Darstellung und niederschmetterndem Inhalt der optische Reiz von „X“.

Nach dem ersten Drittel einer Erzählung zu einem feststehenden Fazit zu kommen, wäre schon bei einem Comic schwierig, der sich nicht einer solch verwirrenden Traumlogik bedient wie „X“. Wo das ganze hinführt und was es mit den schrägen Eiern auf sich hat, wird wohl frühestens im Sommer geklärt werden, wenn der zweite Teil „Die Kolonie“ erscheint. Was jetzt schon bleibt ist zumindest ein Schwung unvergesslicher Bilder, aus denen sich unser Unterbewusstsein seine eigenen Alpträume zusammenbasteln kann. Endlich macht das Zu-Bett-Gehen wieder Angst.

Charles Burnes: Reprodukt. Reprodukt. 58 Seiten (farbig), Hardcover. 18 Euro.


Comics des Monats:

„FVZA“
Titel: FVZA – Federal Vampire and Zombie Agency
Autor: David Hine (Skript), Roy Allan Martinez (Zeichnungen).
Verlag: Splitter. 168 Seiten (farbig), Hardcover. 22,80 Euro.
Wertung: ★★★★

Der Vampir ist ja eigentlich ein ganz geselliges Wesen, der sich manchmal sogar ein paar Werwölfe zum Gruppenkuscheln einlädt, wie uns die „Twilight“-Reihe lehrte. Warum auch nicht, die sind ja schön flauschig. Der Zombie hingegen ist die soziale Krücke des Horrorgenres. Als herumschlurfender Toter hält er nun einmal immer den Betrieb auf und ist auch sonst keine Stimmungskanone. Ein Crossover der beiden Spukgestalten ließe also „Ein seltsames Paar“ mit Blut und Gedärmen erwarten, weit gefehlt, wie „Federal Vampire and Zombie Agency“ beweist: Hier sind auch Vampire antisoziales Gesindel, das zunehmendem körperlichen Verfall unterworfen ist und versucht, die Menschheit mit Hilfe eines Zombievirus zu vernichten. Dies zu verhindern hat sich die Spezialeinheit „FVZA“ zur Aufgabe gemacht, die unter der Leitung von amazonenhaften Landra Percos nicht gerade zimperlich zur Sache geht. Das Resultat ist handfester Horror mit hohen Actionanteilen und dem wohl besten Artwork, das man im Gruselgenre in den letzten Jahren zu sehen bekommen hat. Zeichnungen dieser Opulenz und Qualität findet man eigentlich nur als Cover, doch Roy Allan Martinez ist das seltene Kunststück gelungen, ihnen Leben einzuhauchen. Falls dafür noch niemand den Begriff „Art Porn” geprägt hat, ist das hiermit geschehen.


„Die dunkle Seite des Z“
Titel: Spirou + Fantasio. Bd. 50: Die dunkle Seite des Z
Autor: Fabien Vehlmann (Skript), Yoann (Zeichnungen).
Verlag: Carlsen Comics. 57 Seiten (farbig), Softcover. 9,95 Euro.
Wertung: ★★★

Auf die, zugegebenermaßen selten gestellte, Frage, ob es auf dem Mond Werwölfe gibt, antwortet im Anschluss der fünfzigste Band der ausgesprochen traditionsreichen Serie „Spirou und Fantasio“. Mit „Die dunkle Seite des Z“ liegt die zweite Arbeit des neuen Kreativteams Vehlmann und Yoann vor, das sich verstärkt an den Glanzzeiten der Serie in den 1980er und 90er Jahren orientiert. Optisch durchaus gelungen, kommt man inhaltlich allerdings über vergnüglichen Mumpitz nicht hinaus: So erwachen die Reporter Spirou und Fantasio eines Morgens überraschend auf dem Mond, wo der verrückte Wissenschaftler Zyklotrop eine Forschungsstation mit angegliedertem Ferienparadies für die oberen Zehntausend errichtet hat. Es dauert allerdings nicht lange, bis dieses nicht nur von Sabotageakten, sondern auch von einer Strahlung heimgesucht wird, deren Einfluss äußerst bedenkliche Auswirkungen auf das Wachstum von Haaren, Nägeln und Reißzähnen hat. Trotz dieser mitunter kruden Story lassen Vehlmann und Yoann keinen Zweifel daran, dass sie die Figuren gut zu handhaben wissen und schüren die Hoffnung darauf, dass ihnen mit einem der nächsten Bände endlich einmal der verdiente große Wurf gelingt.


„Das Zeichen des Mondes“
Titel: Das Zeichen des Mondes
Autor: Enrique Bonet (Skript), José Luis Munuera (Zeichnungen).
Verlag: Carlsen Comics. 134 Seiten (s/w), Hardcover. 29,90 Euro.
Wertung: ★★★★

Und noch einmal leuchtet der Mond über einer Neuerscheinung, diesmal allerdings nur in einer Nebenrolle. Pikant ist hingegen, dass „Das Zeichen des Mondes“ von José Luis Munuera gezeichnet wurde und damit von eben demjenigen, der „Spirou und Fantasio“ betreute, bis er von Vehlmann und Yoann geschasst wurde. Angesichts seines neuen Werks war das aber nicht das Schlechteste, was ihm passieren konnte. Nach einem Szenario von Enrique Bonet erzählt er in einer Mischung aus Märchen und Coming-of-Age-Story von den zarten Banden zwischen der hübschen Artemis, die ihr Leben nach den Mondphasen ausrichtet und dem jungen Reisig, der mit Tieren sprechen kann. Als Artemis kleiner Bruder bei einem nächtlichen Wettkampf verunglückt, zieht sich das Mädchen von der Welt zurück. Erst als Reisigs Leben auf dem Spiel steht, wagt sie einen Ausbruch aus der selbstgewählten Einsamkeit… Zwar verwendet Bonet eindeutig zu viel Zeit auf sehr uninteressante Nebenfiguren, doch Munueras Artwork trägt die Handlung über diese Schwäche hinweg. Seiner schwarz-weißen, mit feinen Grautönen plastisch gearbeiteten, Bildsprache wohnt eine visuelle Poesie inne, die der Anziehungskraft des Mondes in nichts nachsteht.


„Chew – Bulle mit Biss!“
Titel: Chew – Bulle mit Biss! Bd. 3: Eiskalt serviert
Autor: John Layman (Skript), Rob Guillory (Zeichnungen).
Verlag: Cross Cult. 128 Seiten (farbig), Hardcover. 16,80 Euro.
Wertung: ★★★★

Und nun zu den alten Freunden dieser Kolumne: Auch in „Eiskalt serviert“, dem dritten Teil der Serie „Chew – Bulle mit Biss!“ hat Tony Chu, der Sonderermittler mit den übermenschlichen Geschmacksnerven alle Hände voll zu tun: Erst ermittelt er gegen Feinkost-Fetischisten, die ausschließlich ausgestorbene Tierarten wie Dodos oder Mammuts dinieren. Anschließend legt Tony sich mit der Hahnenkampf-Mafia an, um den gefährlichsten Kampfgockel der Welt sicherzustellen. Und am Ende droht ein Thanksgiving-Essen mit der Familie, dass die beiden vorangegangenen Einsätze wie einen Spaziergang im Park wirken lässt. Autor John Layman und Zeichner Rob Guillory entwerfen all dies in Form eines spielerischen Chaos, dessen Originalität und Witz den Hype, den „Chew“ in der Comicwelt entfacht hat, locker rechtfertigen. Daran kann selbst der unsinnige Cliffhanger am Ende des Bandes, der keine Spannung sondern nur Ratlosigkeit erzeugt, nichts ändern. Kein Wunder, dass der amerikanische Sender „Showtime“ (u.a. „Californication“ und „Dexter“) mittlerweile an der TV-Auswertung arbeitet. Alle wollen mehr Tony – egal in welchem Medium.


„Canardo“
Titel: Canardo. Bd. 20: Entspiel
Autor: Sokal (Skript & Zeichnungen), Pascal Regnauld (Zeichnungen).
Verlag: Schreiber & Leser. 48 Seiten (farbig), Softcover. 12,95 Euro.
Wertung: ★★★

Der zweite Dauergast an dieser Stelle ist einmal mehr Erpel Canardo. Nachdem der schmuddelige Entenschnüffler zuletzt durch die Wiederveröffentlichung seiner frühen Fälle von sich reden machte, erscheint mit „Entspiel” nun ein neuer Fall. Darin gilt es, die Unschuld des Kommissars Garenni zu beweisen, dem vorgeworfen wird, volltrunken einen Kollegen angeschossen zu haben. Seine Spielschulden bei der Russenmafia machen die Sache aber auch nicht gerade leichter. Dass es sich bei Garenni um einen Hasen handelt, ist dabei ein Wink mit dem Zaunpfahl: Die Handlung schlägt mehr Harken als ihr gut tut und kippt am Ende arg ins Alberne um. Eine wahre Freude ist es hingegen, Canardo bei der Ausübung seiner Arbeit zuzusehen, die im Wesentlichen daraus besteht, sich von Polizei und Gangstern gleichermaßen zusammenschlagen zu lassen und mit jeder Frau ins Bett zu gehen, die auch nur eine minimale Anfälligkeit für seinen derangierten Charme aufweist. Einmal packt er sogar komplexes forensisches Gerät aus – allerdings nicht um den Fall zu lösen, sondern um herauszufinden, welche Geheimzutat die Mafiosi in ihre Cocktails mischen.


Wiederveröffentlichung des Monats:

„Legenden der Gegenwart“
Titel: Legenden der Gegenwart
Autor: Pierre Christin (Skript), Enki Bilal (Zeichnungen).
Verlag: Ehapa Comic Collection. 174 Seiten (farbig), Hardcover. 45 Euro.
Wertung: ★★★★

Dank eines Militärexperiments beginnt ein Dorf plötzlich, sich in die Lüfte zu erheben und durch Frankreich zu schweben. Um ein Tourismusprojekt zu stoppen beschwören Fischer die Geister ihrer Vorfahren. Und die Erbin eines Wirtschaftsimperiums versucht, die perfekte Stadt zu errichten. Die Gesamtausgabe versammelt die längst vergriffenen Alben „Die Kreuzfahrt der Vergessenen“, „Das steinerne Schiff“ und „Die Stadt die es nie gab“ mit denen die Schwergewichte Pierre Christin („Valerian und Veronique“) und Enki Bilal („Alexander Nikopol“) von 1975-77 ihre Trilogie „Legenden der Gegenwart“ begründeten. Die Comics spiegeln die Gegenkultur dieser Zeit mit ihrer Ablehnung von Staat, Militär und Kapitalismus wieder und erzählen Geschichten, denen man eine verklärte Sozialromantik unterstellen würde, wäre ihr Grundtenor nicht so skeptisch und ihre Welt nicht so schmutzig. Besser ausgesehen haben sie dabei allerdings nie: Der Hardcoverband im Überformat macht ordentlich was her und die Originalzeichnungen wurden farblich mustergültig aufgefrischt, ohne das Original dabei zu verfälschen. Nur ein Vorwort mit zusätzlichen Informationen sucht man vergeblich, obwohl sich das gerade bei einem solchen Stoff angeboten hätte.

Autor*in

Janwillem promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft. Er schreibt seit 2010 regelmäßig für den Albrecht über Comics und Musik, letzteres mit dem Schwerpunkt Festivalkultur.

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