Herr Lange und ich kennen uns nun seit gut einem Jahr. Wir besuchen die gleiche Kneipe, mittlerweile beide stetig nüchtern, wir haben einen gemeinsamen Freundeskreis und sind doch sehr unterschiedlich. Er studiert Naturwissenschaften, hat einen Vollbart und gibt wenig auf die Meinung anderer Leute. Ich habe aus einem mir mittlerweile unverständlichen Grund ein Studium der Geisteswissenschaften begonnen, habe im Gesicht weniger Haare als mein 63-jähriger Vater auf dem Kopf und drehe mir aus den Meinungen anderer einen Strick, an dem man sich ohne Probleme bis Alpha Centauri hangeln könnte. Andererseits tanzen wir beide nicht gerne. Seinen Grund kenne ich nicht, meiner ist darin begründet, dass ich mich auf Tanzflächen fühle und bewege wie ein Elefant im Porzellanladen. Auch sagt mir die meiste dort gespielte Musik so sehr zu wie einem Hund Schokolade. Ich habe bisher die Kalkulation der meisten Nachtclubs nicht begriffen, die ihrer Musikauswahl zugrunde liegt. Man könnte sie mir wahrscheinlich erklären und ich würde mich schlichtweg weigern, sie zu begreifen, denn das nähme mir ja die Hauptmotivation für meine allwochenendlichen Beschwerdetiraden über die Unzulänglichkeit der modernen Populär- und Clubmusiklandschaft.

Um also das Potpourri aus schlechter, überspielter und schlechterdings kakophoner Musik, die uns alle, die wir zu den Tempeln der Nachtkultur pilgern, zu erfreuen sucht und mich enttäuscht, zusammenzustellen bedarf es einiger Spielregeln. Diese gelten für genrespezifisch nicht festgelegte Etablissements, die man in jeder Stadt findet und die das größte Publikumsaufkommen verzeichnen. Grundlage sind gerne unzutreffend als Evergreens bezeichnete Songs, die wohl von einem Mann mit Rot-Grün-Schwäche benannt worden sind, denn sie sind braun wie ein fauler Apfel. Zu dieser Gruppe gehören natürlich Plastikperlen wie Wannabe von den Spice Girls (erschreckend, wie viele kleine Mädchen damals wohl „slam your body down and wind it all around“ gesungen haben, Jahre bevor ihnen klar wurde, was sie da eigentlich sagten), Cotton Eye Joe (selbst der größte Hillbilly kann den Plural von Redneck richtig schreiben), Macarena oder Bailando, die alle beweisen, wie unwichtig deutschen Diskobesuchern ein Text ist, den sie eh nur in Bruchstücken verstehen. Außerdem gibt es eine blind getroffene Auswahl an aktuellen Hits, die scheinbar zufällig eingesprenkelt werden. Wichtig ist, immer einen Marsimoto Song unmittelbar vor oder nach Ahnma zu spielen, damit die drei Deppen, die nicht zu besoffen sind, um den Gag zu checken, kurz blöd grinsen. Dazu kommen dann einige Songs, die die Humorbereitschaft eines jeden auf die Probe stellen, indem sie weibliche Rundungen mit Wörtern beschreiben, die eher in die Fleischereiauslage gehören (1 Pfund gemischtes Hack in Hollister Jeans könnte der Sommerhit 2017 werden). Dazu kommen dann noch einige Songs von Drake, Future, Desiigner und anderen brandaktuellen Rappern. Zum Schluss noch eine handvoll guter Songs, die aber viel zu häufig gespielt werden, wie die eine Single von The Throne über Afroamerikaner in der französischen Hauptstadt, 50 Cents Lied über den englischen Gentlemen’s Club oder – als Rausschmeißer – Take That (ja, die Musik ist objektiv alles außer gut, aber ich mag sie).

Also wird der Versuch gestartet, eine genrespezifische Disko aufzusuchen, um dort zumindest nur von einer Musikrichtung enttäuscht zu werden. Ein Black Music Event kommt nicht ohne folgende Klassiker aus: U Remind Me von Usher, Lean Back von Fat Joe, das oben erwähnte In Da Club von 50 Cent, irgendwas von Tupac, The Game, The Weeknd, Rihanna und Drake. Wer besonders schlau sein will, wirft zwischendurch mal Odd Future, gerne Frank Ocean, ein oder spielt einfach mal weder What’s Luv, Jenny From The Block noch Crazy in Love. Eine Indie Disko ist eigentlich Indie Pop, traut sich das aber nicht laut zu sagen oder groß zu drucken. Also spielt der DJ Darwin Deez und keiner erkennt’s, spielt Mr. Brightside, damit alle mitgröhlen und irgendwas von Mumford and Sons, der Song ist egal, auf den ersten beiden Alben sind ja im Prinzip nur zwei Songs in wechselnder Länge und Instrumentation. Gerne würzt man hier noch mit Naive von den Kooks, I Bet You Look Good on The Dancefloor von den Arctic Monkeys oder für wahre Sadisten Wonderwall oder ein „Club-Mix“ von Smells Like Teen Spirit.

Elektronische Musik und ihre besonderen Unterarten kenne ich nicht gut genug, um mehr zu sagen, als dass mir der Bass sehr gut gefällt und ich Goas nicht verstehe, also bleibt als dritte Kategorie noch die Trash Party. Sie ist im Prinzip wie die handelsübliche Großraumdisko, nur meint den Scheiß hier keiner Ernst, sondern sehr 2010-Berlin-Mitte-Hipster-ironisch. In der Erwartung, dass sich auf ernsthaften Veranstaltungen Besucher über diese Musik beschweren würden (die meisten ergeben sich aber ja eh dem Willen des DJs), wird hier tief in den Kisten gekramt, um auch wirklich die grauenvollsten je veröffentlichten Musikstücke einer breiten Öffentlichkeit wieder in die kollektive Erinnerung zu rufen. Diese Praxis scheint, auch wenn der CIA die Mitschnitte solcher Veranstaltungen in Verhören benutzt, in Konkordanz mit den Genfer Konventionen zu sein. Unsittlichkeiten von Künstlern wie Eiffel 65, O-Zone (der romanische Sprachraum ist hier deutlich führend), HaddawayAce Of BaseRight Said Fred oder Ricky Martin finden hier Platz, nur komischerweise spielt niemand die Black Eyed Peas (wobei die auch angeblich „keine Musik“ sind). Da hilft wirklich nur noch viel schlechtes Bier aus einer nahen oder etwas ferneren Hansestadt oder der Heimweg. Das nächste Mal bleibe ich wohl besser zuhause, dann kann ich mich nur über den Mitbewohner meines Mitbewohners beschweren. Herr Lange ist da ganz bei mir.

Autor*in

Paul war seit Ende 2012 Teil der Redaktion. Neben der Gestaltung des Layouts schrieb Paul gerne Kommentare und ließ die Weltöffentlichkeit an seiner Meinung teilhaben. In seiner Freizeit studierte Paul Deutsch und Anglistik an der CAU.

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