Identität – Gesellschaftswissenschaftler*innen bezeichnen sie als soziales Konstrukt, Psycholog*innen sehen sie als die Antwort auf die Frage, wer einer selbst oder wer jemand anderes sei. Bei der Identitätsfindung geht es immer darum, das subjektive Innere in Einklang mit dem gesellschaftlichen Außen zu bringen, ohne sich dabei in eine Krise zu stürzen. Dass die Identität ein schwieriges Konzept ist, beweist schon die Pubertät: Als Scharnier zwischen dem Ich und den Anderen positioniert sie einerseits unsere Individualität in der Gesellschaft, soll andererseits aber auch unser Grundbedürfnis nach Anpassung und Konformität stillen – ein schweres Unterfangen.

In den Identitätsbegriff fließen nicht nur das Vertrauen in sich selbst, sondern auch Konzepte wie Kultur, Ethnizität und Weltanschauung. Diese Konzepte stärken genau wie gemeinsame Erlebnisse eine kollektive Identität, die auf unterschiedlichen Grundannahmen beruht.

Eine dieser kollektiven Identitäten wurde vor den Europawahlen deutlich: Mit „Kommt zusammen! Für Europas Jugend. #Europaistdieantwort“ (SPD), „Weil wir Europa lieben, wollen wir es verändern“ (FDP) und „Kommt, wir bauen das neue Europa“ (Grüne) wird an einen gemeinsamen Aktionismus aufgrund gleicher Werte appelliert. Frei nach dem Motto „Wir sind Europa“ werben verschiedenste Parteien für ihr Programm mit den Attributen, die dieser europäischen Identität zugeschrieben werden: Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Fortschritt, Solidarität, Sicherheit. Ist diese europäische Identität wirklich vorhanden oder nur von einigen wenigen konstruiert? Ist es wichtig für die eigene Identität, europäisch, deutsch oder gar schleswig-holsteinisch zu sein? Die Frage lässt sich nur subjektiv beantworten. Statista stellte 2019 stellt die Frage nach einer nationalen oder europäischen Nationalität in zwölf europäischen Ländern – mit überraschenden Ergebnissen. Den größten Nationalstolz zeigen die Finnen. 44 Prozent von ihnen gaben eine rein nationale Identität an. Sich überwiegend ‚europäisch‘ zu fühlen, gaben 6 Prozent der Deutschen an, das ist der höchste Wert, der europaweit erreicht wurde. Der Großteil aller Befragten jedoch sieht sich in einer hybriden Identität, was die Schwierigkeiten des abstrakten Begriffs weiter demonstriert.

Die Identität gleicht einem Kampfbegriff, der von sämtlichen politischen Lagern, ob links, rechts oder Mitte, genutzt wird. Während hiermit einerseits für ein pluralistisches und offenes Europa geworben wird, nutzen andere den Begriff zum Schutz und zur Abschottung der Grenzen, der für sie einen Raum gleicher Religionen, Kulturen und Weltanschauungen darstellt.

Ist diese europäische Identität wirklich vorhanden oder nur von einigen wenigen konstruiert?

Diese Anschauung vertritt auch die Identitäre Bewegung, die den Begriff sogar in ihrem Namen trägt. Sie stellt den, wie sie es nennt, „ethnokulturellen Aspekt“ der kollektiven Identität in den Mittelpunkt ihres politischen Handelns. Ihn zu erhalten sieht sie als ihre Aufgabe. Dieser Erhaltungswunsch beruht auf der Annahme, dass zwar viele verschiedene Nationen und damit Identitäten existieren, sie sich aber nicht mischen sollten. Sie verweigert sich damit der Möglichkeit, dass Identität etwas Wandelbares ist und sich über einen Zeitraum hinweg verändern kann. Der Logik dieses starren Verständnisses folgend, habe jede Nation das Recht „diese Eigenschaften und Merkmale ihrer ethnokulturellen Identität zu bewahren und zu verteidigen“, wie sie auf ihrer Website schreibt. Auch wenn die Identitäre Bewegung von der Einzigartigkeit jeder Nation ausgeht, existiert für sie trotzdem eine europäische Identität. Diese drückt sich für sie in der gemeinsamen Herkunft, Geschichte und Kultur aus.

Diese europäische Identität zweifelt die AfD dagegen an. In ihrem Programm zur Europawahl schreibt die Partei: „Es ist eine Illusion, dass die nationalen Identitäten nach und nach durch eine europäische abgelöst werden könnten“. In diesem Satz wird deutlich, dass es für die Partei nicht möglich ist, sich deutsch, dänisch oder französisch und gleichzeitig europäisch zu fühlen. Identität ist für die AfD eng verbunden mit der eigenen Nationalität. Das Fehlen einer europäischen Nation macht es für sie unmöglich, eine europäische Identität zu entwickeln. Die Vielfältigkeit von Identitäten der europäischen Nationen erkennt sie dagegen an, diese existieren aber nur nebeneinander.

Die „Identität“ gleicht einem Kampfbegriff, der von sämtlichen politischen Lagern, ob links, rechts oder Mitte, genutzt wird.

Auch wenn sich AfD und Identitäre Bewegung in ihrer Sicht auf eine europäische Identität unterscheiden, haben sie dennoch dieselbe Bedrohung für die deutsche und die europäische Identität ausgemacht. Beide warnen vor einer angeblichen Überfremdung, ausgelöst durch Einwanderung. Womit in beiden Fällen vor allem die Einwanderung von Muslimen und Muslimas gemeint ist. Beachtlich ist, dass sie es geschafft haben, dass diese offensichtlich rassistisch motivierte These in der eigentlichen politischen Mitte diskutiert wird.

Es wird erkennbar: Die Frage nach der eigenen Identität lässt sich nur subjektiv beantworten. Dennoch rückt die Identität in den Fokus politischer Debatten und wird als Kampfbegriff oder Instrument der Verallgemeinerung missbraucht. Ein Begriff, der so persönlich ist wie der eigene Musikgeschmack, sollte nicht zum Gegenstand politischer Meinungsmache werden.

Autor*in

Johanna schreibt seit Anfang 2015 vornehmlich für das Ressort Gesellschaft. Seit Februar 2017 ist sie Chefredakteurin des ALBRECHT. Sie studiert seit dem Wintersemester 2014 Deutsch und Soziologie an der CAU.

Autor*in

Janika studiert Politik- und Islamwissenschaft an der CAU. Sie ist seit November 2016 beim Albrecht dabei.

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