Quo vadis, wertes Kino? Wer in Deutschland aktuell ein Filmtheater besuchen will, stößt auf verschlossene Türen. Wie den ganzen Unterhaltungssektor trifft die Corona-Pandemie die Kinobetreiber*innen besonders hart. Anders als Buchläden, die in einigen Bundesländern noch als „systemrelevant“ eingestuft werden, müssen Kinos selbst noch im „Lockdown Light“ schließen. Der Niedergang – insbesondere der kleinen – Lichtspieltheater ist schon seit Jahren im öffentlichen Bewusstsein, beschleunigt durch den Aufstieg von Streaming-Diensten wie Netflix und Amazon Prime. Ist Corona jetzt also der letzte Sargnagel? Nein, sagte sich Star-Regisseur Christopher Nolan. Seit Jahren ist er Verfechter des Kinos als privilegierten Aufführungsort, und schickte in diesem Spätsommer mit Tenet seinen nächsten Mega-Blockbuster in den Kampf um die Seele der Filmvorführungen.  

Die Bilanz? Knapp 350 Millionen Dollar Einspielergebnis. Klingt viel, ist es aber nicht. Bei einem Budget von 200 Millionen Dollar und mindestens ebenso hohen Ausgaben für Marketing schrumpft die Imposanz einer solchen Zahl doch mächtig. Und noch mehr, wenn wir uns erinnern, dass Nolans Filme normalerweise im Box Office um die 1-Milliarde-Dollar-Marke kursieren. Oder dass es allen Ernstes Sonys Sequel-Gurke Bad Boys for Life dank prä-Corona-Bedingungen geschafft hat, mehr einzuspielen als diese Kopfnuss für Filmenthusiast*innen. Tenets Versagen vor dem Box Office dürfte der Grund sein, warum quasi alle großen Filmverleihe ihre Blockbuster – namentlich etwa James Bond 007: Keine Zeit zu sterben oder Dune – mit gesundem Optimismus auf Herbst nächsten Jahres verschoben haben.

Corona verändert die Art und Weise, wie wir Filme konsumieren. Hier könnt ihr mehr dazu lesen, wie das Kino der Zukunft aussieht: Brauchen wir alle 1,50 Meter Abstand vom Kino?

Kino unter Corona-Bedingungen kann also nicht funktionieren, selbst mit einem Film wie Tenet. Dabei ist dieser ein Appell an die Macht des Kinos wie kaum ein anderer.

Nolans Spiel mit der Zeit 

Wer mit dem Gesamtwerk von Nolan vertraut ist, weiß um seine besondere Beschäftigung mit dem Phänomen der Zeit. Während rückläufige und verdrehte Zeitstrukturen in seinem Frühwerk (MementoThe Prestige) noch die Rolle als erzählerisch innovative Elemente ausfüllten, nähert er sich mit seinen aktuellsten Filmen (InterstellarDunkirk) den großen Fragen nach ihrer übermenschlichen, archaischen Macht. Nolans Filme machen klar: Selbst im Zeichen ungeheurer technischer Innovationen kann sich der Mensch nicht aus den Fängen der Zeit und ihren Beschränkungen lösen. Tenet stellt in einer solchen Denkfigur die Spitze des Eisbergs dar. 

In Tenet gewinnt die Zeit selbst eine Handlungsmacht, mit der sie auf die handelnden Figuren und ihre Motive einwirkt. Die Handlung des Films ist kurz zusammengefasst die Rache der Zukunft an der Gegenwart. Wissenschaftler*innen stoßen auf „temporal invertierte“ Objekte, die sich statt in der Zeit vorwärts-, in ihr zurückbewegen. Trümmer und Spuren in der erzählten Welt weisen auf eine Katastrophe globalen Ausmaßes hin, die sich in der Zukunft bereits ereignet hat und nun mit zunehmender Rasanz auf die Gegenwart zueilt. Das allein ist als Prämisse in seiner haarsträubenden Widersinnigkeit ganz großes Kino. 

Ein Spektakel für fast alle Sinne 

In Nolan-typischer Manier findet Kameramann Hoyte van Hoytema dafür große Bilder. Die könnten nicht umsonst direkt aus dem Repertoire eines James-Bond-Streifens stammen – Nolan hatte im Vorfeld mehrfach berichtet, dass er immer schon einmal einen Agenten-Thriller nach dem Vorbild von 007 drehen wollte. Eine Szene im Mittelteil des Films belebt Erzählungen vom Staunen des Publikums bei Dorothys Übertritt in das magische Land von Oz wieder (Der Zauberer von Oz, 1939), der als einer der ersten Farbfilme die Dreistreifen-Technicolor-Technik publikumsreif machte. Ohne zu spoilern kann gesagt werden: so etwas gab es vorher noch nicht zu sehen; das Kino beweist hier seine Schauwerte. Flankiert wird die opulente Optik durch einen nicht immer feinfühligen, aber herrlich nach vorn treibenden Soundtrack, der ausnahmsweise einmal nicht aus der Feder des Filmmusik-Moguls Hans Zimmer stammt – der war aufgrund seiner Beschäftigung für Denis Villeneuves Dune nicht zu haben. Mit Ludwig Göransson schafft es damit nach Hildur Guðnadóttir (Joker) ein weiterer Skandinave vom Serienformat (Göransson vertonte zuvor The Mandalorian) auf die ganz große Leinwand. 

Bei einem Film dieses Kalibers ist es umso ungewöhnlicher, dass sich Tenet einige grobe Schnitzer erlaubt. Da wäre zum einen der Tonschnitt, der es einem internationalen Publikum stellenweise unmöglich macht, einfachen Figurendialogen zu lauschen. Die gehen unter der überlauten Tonkulisse nämlich einfach unter. Wir in der deutschen Synchro sind da schon etwas besser dran, dennoch führt das Missverhältnis zwischen Sound und Dialog etwa dazu, dass ich mir bei meinem ersten Kinobesuch in einem nicht näher benannten Multiplex-Kino im Herzen Erfurts bisweilen die Ohren zuhalten musste, wenn es auf dem Bildschirm so richtig zur Sache ging. Scheinbar hatten sich die Filmvorführer*innen für die Brecheisen-Methode entschieden: einfach den Ton im Kino eine Spur lauter als gewöhnlich zu drehen, um die Dialoge bis ins Publikum zu retten. Und dann wären da noch zahlreiche lose Enden, wie etwa der titelgebende Geheimcode, der zu Beginn eingeführt wird als Eintrittslosung in geheime Gesellschaften, um dann nach zwei Nennungen in den ersten Minuten kein einziges Mal mehr eine Rolle zu spielen. 

Gleichzeitig ließen sich die Vorwürfe, die sich Tenet gefallen lassen muss, auch ins Positive wenden. So ist es prinzipiell innovativ, dass der Film einmal keine klassische Heldenreise erzählt, bei der die Hauptfigur eine moralische Veränderung durchläuft. Und bei einem Erzählexperiment wie diesem kann und muss es beim ersten Mal vielleicht auch keine absolute Punktlandung sein. 

Bild: Krists Luhaers, Unsplash

Eine Ode an das Kino 

Tenet ist Blockbuster-Kino in Reinform. Es ist eine wahre Tour de Force des Erzählens (das Continuity Department verdient Preise für seinen Job), das aber die eigene Stringenz dem Spektakel opfert, dessen reichhaltige thematischen Anknüpfpunkte (Klimawandel, Krisenmanagement) und philosophische Implikationen ein ums andere Mal behindert werden durch ein zu hohes Erzähltempo und unlogische Figurenhandlungen. Es ist damit ein Appell an die ureigenen Qualitäten eines Kinos, das einen emotional durchrüttelt und in die Sitze presst, das einen Staunen lässt, anstatt einfach nur als Zeitvertreib leere Abende zu Hause auf der Couch zu füllen. Tenet ist bei weitem nicht perfekt. Aber es sensibilisiert für die Kraft, die diese besondere Aufführungssituation im Kinosaal entfalten kann. 

Eine der letzten Phrasen des Films lautet: „No one cares about the bomb that didn’t go off, just the one that did. But it’s the bomb that didn’t go off – the danger no one knew was real – that’s the bomb with the real power to change the world.“ Tenet ist die Bombe, die nicht hochgegangen ist. Und vielleicht wird es gerade deshalb zu dem Film werden, der über das Schicksal der Kinos entscheidet.  

Autor*in

Frederik ist 25 Jahre alt und studiert an der CAU Gegenwartsliteratur und Medienwissenschaft im Master. Er ist seit April 2019 Teil der Redaktion des Albrechts.

Share.

Ein Kommentar

  1. Pingback: Brauchen wir alle 1,50 Meter Abstand vom Kino? – DER ALBRECHT

Leave A Reply