Das Literaturhaus Schleswig-Holstein. Ein schickes, kleines Haus, umgeben von Villen am Rande des Alten Botanischen Gartens. Schauplatz von Lesungen und anderen literarischen Veranstaltungen im ganzen Jahr. Und am Ende jedes Jahres wird mit der Liliencron-Dozentur ein literarisches Talent gewürdigt, das sich mit seiner Lyrik besonders hervorgehoben hat. Im Dezember 2013 wurde mit dieser Poetik-Dozentur Arne Rautenberg ausgezeichnet, ein Kieler Schriftsteller, der seit mehr als 20 Jahren aktiv ist und auf eine umfangreiche Bibliographie zurückblicken kann. „Arne Rautenberg setzt sich für Lyrik in der Stadt Kiel ein“, kommentiert Dr. Wolfgang Sandfuchs, Geschäftsführer des Literaturhauses Schleswig-Holstein, die Wahl des diesjährigen Dozenten.

Foto: Arne Rautenberg
Unter dem Titel vermeeren liest Rautenberg zu Beginn der 17. Kieler Liliencron-Dozentur querbeet aus seinem literarischen Schaffen vor, das facettenreicher kaum sein könnte. Der gebürtige Kieler bedient sich zahlreicher lyrischer Formen. In kurzen Gedichten, beispielsweise dem Haiku, kombiniert er die traditionelle Naturverbundenheit dieser Gedichtform mit amüsanten Elementen. Nicht nur hier ist Humor ein wesentliches Leitmotiv seiner Poesie. Sehr oft bringt Rautenberg das Publikum mit seinen Texten zum Lachen. Besonders gelingt ihm das mit den Gedichten, die er ‚Lyrik für Kinder‘ nennt und die oft lautmalerisch funktioniert. „Hier mache ich, was ich sonst nicht mache: Hemmungslos reimen“, so beschreibt Rautenberg diese Gedichte.
Besonderes Augenmerk verdient das Kreisgedicht, eine lyrische Form, die Rautenberg erfunden hat und die sowohl inhaltlich als auch visuell einen geschlossenen Kreis bildet. Der thematische Gegenstand des jeweiligen Gedichts ist von vorne und hinten lesbar und somit unendlich.
Trotz freier und experimenteller Formen sind Rautenbergs Gedichte greifbar, sie erzeugen Bilder, die den Rezipienten nicht loslassen wollen. In die vogeluhr beispielsweise wird ein Sonnenaufgang durch die Weckrufe verschiedener Singvögel visualisiert, jeder Vogelgesang mündet dabei in Selbstreflexion: „4.00 uhr (buchfink): ich gehe durch meine stadt und es ist nicht meine stadt durch die ich gehe.“ Ähnlich selbstreflexiv geht es in unter uns zu, das als Frage nach dem Wert des Individuums gelesen werden kann: „und da war ich da und ich kannte nur mich / mich als heranwachsenden zwischen / anderen heranwachsenden die ich auch war.“

Neben der Schriftstellerei befasst Rautenberg sich vor allem mit der bildenden Kunst, ob Malerei, Collagen oder visuelle Poesie. So entstehen getreu dem Motto „Dinge zusammenbringen, die nicht zusammen gehören“ unter anderem Collagen, deren Zentrum Vögel sind, denen ausgeschnittene Zitate aus der Apotheken Umschau in den Mund beziehungsweise in den Schnabel gelegt werden. Auch ganz normaler Hausmüll kann auf diese Weise zu Kunst werden. Wer sich schon immer gefragt hat, was eigentlich EDLE ARTIST AG auf dem Dach der Kieler Stadtgalerie bedeutet: Auch dies ist ein Kunstwerk Rautenbergs und ein simples Anagramm des Wortes ‚Stadtgalerie‘.
Der zweite Teil der Liliencron-Dozentur fand am darauffolgenden Tag in Form einer Poetik-Vorlesung an der Uni Kiel statt: Warum ist das Gedicht im Vergleich zum Roman eine so unpopuläre Form? Dieser und vieler weiterer Fragen der Dichtkunst ging Rautenberg in Form eines Prosa- Gedichts nach.
Auf die Frage, welchen Stellenwert Lyrik für ihn hat, antwortet Arne Rautenberg: „Poesie ist für mich ein Raum, der im Gegensatz zur real gelebten Wirklichkeit steht, welche einem doch eher Möglichkeiten verbaut als eröffnet.“ In der Poesie sei dies umgekehrt. „Sie gibt in ihrer grenzenlosen Freiheit den Dichterinnen und Dichtern die einmalige Chance, ihre Stimme zu erheben, sich einen ganz eigenen, völlig auf einen selbst zugeschnittenen Ausdruck zu geben.“ Eine Freiheit, die Rautenberg auf jeden Fall auszuschöpfen weiß.
Anzeigefoto: Einschusslöcher im Datensalat von Arne Rautenberg.
Eine Auswahl aus Arne Rautenbergs Lyrik
kiel
beim blick auf den weit geöffneten wässrigen bogen
ziehn weiße segel reißzahngleich durchs himmel
fleisch die möwen fern um jeden schrei betrogen
ziehn aus dem blick sind abgebogen wellengewimmel
mikrotosen in den ohren ohne nachdruck ohne spuren
im kopf ein rauschen mantragleiches vorwärtstouren
wann kommt das silber der ostsee in riesigen schwärmen
wann hat das wasser die wärme hineinzusteigen
wann dröhnt infernalisch ein signal in gedärmen
wann verschwinden die fähren in eisigem schweigen
aus: gebrochene naturen
die vogeluhr. sonnenaufgang 4.30 uhr. mitte mai.
3.00 uhr (gartenrotschwanz): die geschichte deines vaters ist tief in die erde vergraben.
3.10 uhr (rotkehlchen): man wird diese erde dir ausheben.
3.15 uhr (amsel): alle die du jemals geliebt hast sind dahin gegangen wo es sie nicht mehr gibt.
3.20 uhr (zaunkönig): und die blitzlichter die kurz in deinen augen nachleuchten grinsen sich eins.
3.30 uhr (kuckuck): und die lieben sternlein summen wirkönnenwirkönnenwirkönnenesdirnichtgeben –
3.40 uhr (kohlmeise): hinter dem sturm ist ein sturm.
3.50 uhr (zilpzalp): hinter dem stern ist ein stern.
4.00 uhr (buchfink): ich gehe durch meine stadt und es ist nicht meine stadt durch die ich gehe.
4.20 uhr (haussperling): ich denke mich und ich bin es nicht der mich denkt.
4.40 uhr (star): der winter der mir den schlaf bettet in den ich meinen schlaf bette.
als weckreiz für vögel dient ein bestimmer grad der helligkeit. dieser helligkeitsgrad ist für jede singvogelart so genau bestimmbar, dass man sich im frühjahr vom ruf eines singvogels wecken lassen kann.
aus: gebrochene naturen
der nelkenherr
ein herr bricht sich eine nelke
und steckt sie sich ans revers
ein herr bricht sich eine nelke
und steckt sie sich an den hut
ein herr bricht sich eine nelke
und schiebt sie sich hinters ohr
der unverfrorne herr
mit der nelke am revers
nimmt sich zwei nelken mehr
er nimmt die nelke vom hut des einen herrn
er nimmt die nelke
vom ohr des anderen herrn
in der zeitung steht später
am boden liegt ein herr
mit einer nelke am revers
in seinen augen welken
des weiteren
zwei nelken
eine hutnelke
eine ohrnelke
aus: mundfauler staub
unter uns
da war mein vater mehr als einer
da war mein vater mehr als tausend
da war mein vater alle männer
und auch mutter war
und auch sie war mehr als eine mehr als tausend
und auch sie war alle mütter
und da begegnete sich vater selbst
in der fabrik an den maschinen
trieb sich an und brüllte rum und vater
begegnete sich in allen autos die ihm
nach feierabend entgegenkamen und seine stimme sprach
als er das autoradio andrehte
und auch mutter kaufte morgens fleisch bei sich
nahm sich das geld aus der hand grüßte sich
im treppenhaus und hörte ihre eigene stimme
ihre eigenen sorgen am telefon von jemandem
der sprach wie sie der ihre stimme ihre sorgen hatte
und wenn vater kam kam vater überall
und wenn mutter die tür öffnete öffnete mutter überall die tür
und alle meine mütter hießen alle meine väter willkommen
und es war nichts dabei in jedem haus fassten
alle meine väter an alle meine mütter
und alle meine mütter lupften alle ihre mütterröcke
und alle meine väter öffneten alle ihre väterreißverschlüsse
und da war ich da und ich kannte nur mich
mich als heranwachsenden zwischen
anderen heranwachsenden die ich auch war
mich als spielkameraden der mit jemandem der ich war spielte
mich als fußballmannschaft die nur gegen andere
fußballmannschaften die aus mir bestanden antrat
und so blieb mir nichts als mich mit mir zu trösten
und es war mein einziger trost dass alle anderen die ich auch war
sich wie ich mit mir zu trösten hatten
aus: mundfauler staub