Artikel von Juliane Baxman

Es sollte ein unvergessliches halbes Jahr voller Abenteuer, Alkohol und Aufregung, neuer Freundschaften und Erlebnisse werden. „Es wird wundervoll“, sagten alle. Ein kleiner Spoiler: Wurde es nicht. Erasmus – einer der wohl klischeevollsten Begriffe während des Studiums. 


August 2019  

In diesem Sommer lernte ich Kiel so richtig lieben: Das Möwengeschrei am Morgen, die kühle Brise, die mich jeden Tag während dieses heißen Sommers erfrischte, das Wasser, die Förde, Übernachtungen am Strand und Nächte im Pub. Mein Studium an der FH machte mir großen Spaß, ein erfolgreiches viertes Semester lag hinter mir und ich war mir sicher, dass ich mein Leben ziemlich gut im Griff zu haben schien. 

Doch ich war schon immer ein sprunghafter Mensch auf der Suche nach neuen Herausforderungen und so war ich nach diesem tollen Sommer dennoch bereit für Veränderung. Neue Orte sehen, Menschen kennenlernen, neue Dinge lernen. Was bietet sich dafür am besten an? Genau: Ein Erasmus-Semester. Und egal mit wem ich sprach, was ich las und hörte, es wurde durch und durch positiv beschrieben. Alle wuchsen in ihrem Semester an einer fremden Hochschule, lernten sich selbst neu kennen. Das wollte ich auch. 

Bild: Sofia Sveshnikova, Unsplash

Die Stadt, in die es mich verschlug, lag im Herzen Belgiens: Antwerpen. Die Stadt, die jede*r irgendwie kennt, von der jede*r schon mal etwas gehört hat, und von der jede*r denkt, sie läge in den Niederlanden. Die Stadt der Mode, der Second-Hand-Läden, der Kulinarik. Die Stadt vom weltbekannten Künstler Rubens und die Stadt voller wunderschöner Plätze, alten Häusern, mit unfassbar viel Kultur. Und Bier. Und Schokolade. Und Waffeln. Eine Stadt wie Antwerpen kann doch nur toll sein. Ich war voller Elan und Zuversicht, dass es einfach gut werden MUSS. Die Voraussetzungen waren auf jeden Fall gegeben. Und noch dazu hörte sich die Uni gut und die Kurse interessant an. Ich war bereit für alle Klischees, die dieses Semester so vielversprechend erscheinen ließen.  


Oktober 2019 

 „Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich möchte ausbrechen, abbrechen, nach Hause, nach Kiel. Diese Stadt, diese Menschen, dieser Alltag – es macht mich fertig. Ich fühle mich antriebslos. Ausgelaugt. Unerfüllt. Was mach’ ich nur. Ich kann doch nicht gehen, aber ich will…“  

Diese Gedanken schrieb ich, nach fast zwei Monaten in der neuen Stadt, nieder. Ich fühle heute noch die Verzweiflung, Wut und Angst. Die Trauer und den Hass über mich selbst. Was ist schiefgelaufen? Das fragte ich mich in dieser Zeit fast täglich. Heute kann ich sagen: So einiges. Eigentlich alles.  

Es war ein Semester ohne PartysOhne viel Bier. Ohne viele, neue Menschen. Ohne unvergessliche Reisen und lustige Abende in Studentenwohnheimen. Es kostete mich fast all meine Kraft, Nerven und Zeit. Die Aufregung der ersten Wochen verflog so schnell, wie sie gekommen war. Mein Studienprogramm war einseitig und unorganisiert, es erfüllte mich nicht. Meine Kurse stellten sich als einseitig und uninteressant heraus, immer mit den gleichen Leuten, mit denen ich nie wirklich auf einer Wellenlänge war. Das machte es noch schwieriger, neue Menschen kennenzulernen. Meine WG war ein Reinfall. Ich lebte alleine, mit einer arbeitstätigen Frau, die nie zuhause war. Ein Zimmer in einem Wohnheim zu finden war fast unmöglich. 

Es gab keine Uni-Ausflüge, fast keine Aktionen für internationale Studierende, viele Deutsche, die sich bereits kannten und Holländer*innen, die jedes Wochenende nach Hause zu ihren Familien fuhren. Die Belgier*innen erschienen mir als verschlossene, grummelige Menschen, die keine Lust auf neue Bekanntschaften zu haben schienen. Die Cafés und Second-Hand-Shops fraßen mein Geld, das Leben war teuer, die Metropole irgendwann gar nicht mehr so glänzend und aufregend wie ich sie mir zu Beginn erträumt hatte.  

Bild: Aaron Staats, Unsplash


Die Antwort auf die Frage: „Was habe ich falsch gemacht?“  

Nach nur zwei Monaten hatte ich Erasmus satt. Ich hatte es satt zu hoffen, dass die Ausflüge und Erfahrungen und Bekanntschaften noch irgendwann kommen würden. Ich fiel in ein Loch. Es war kein Heimwehloch, es war ein verzweifeltes, einsames Loch, gegraben von zu hohen Erwartungen und zu vielen nicht erfüllten Klischees. 

Nachdem es an Weihnachten für zwei Wochen nach Hause ging, fand ich mich damit ab, dass diese fünf Monate verlorene Zeit waren. In Gedanken hing ich immer in Kiel. Ich sah die Storys und Posts meiner Freunde, die sich ebenfalls im Ausland befanden, und scheinbar doch die Zeit ihres Lebens hatten. Ich fragte mich immer wieder: „Was habe ich nur falsch gemacht, was ist nur anders gelaufen?“   


Februar 2020 

Mittlerweile habe ich die Antwort gefunden: Gar nichts. Ich habe gar nichts falsch gemacht, denn man kann zwar beeinflussen, auf welcher Party man tanzt, welche Menschen man anspricht oder welchen Clubs man beitritt, doch der Verlauf der Dinge liegt häufig nicht in unserer Hand. Erasmus ist mehr als nur ein Wort. Es ist ein Klischee, ein Mysterium, ein Vorurteil und eine Erwartungshaltung zugleich und ich habe mir all das viel zu sehr zu Herzen genommen. Vielleicht hätte ich ohne Erwartungen, Vorstellungen und Hoffnungen an dieses Semester gehen sollen. Vielleicht wäre es dann besser gelaufen. Vielleicht aber auch nicht.  

Falls auch ihr gerade vor der Entscheidung steht, ob es das Richtige ist, ein Semester im Ausland zu verbringen, kann ich nur sagen: Go for it, aber nehmt die Erwartungen und Hoffnungen und Vorstellungen raus. Macht euch keinen Druck, denkt nicht zu viel nach und vergesst nie: Erasmus ist auch nur ein Wort, und jeder erlebt dieses Semester auf seine ganz eigene Art und Weise.   

Autor*in

Hier schreiben mehrere Autor:innen der ALBRECHT-Redaktion oder Personen, die ihren Text anonym veröffentlichen wollen.

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