Vor der französischen Parlamentswahl ist alles offen, nur die Rechte scheint gesetzt

Michel Houellebecq zeichnet in seinem Roman Unterwerfung ein bizarres Bild eines zukünftigen Frankreichs. 2022, so der Roman, kommt aus Angst vor einer Machtübernahme durch Marine Le Pen und ihrer Front National ein Dreierbündnis aus Sozialisten, Konservativen und der noch jungen Muslimischen Brüderschaft zusammen. Die Führung übernimmt der Muslim Ben Abbes, der Frankreich umgehend in einen Gottesstaat umwandelt. Der Roman erschien am 7. Januar 2015, dem Tag des Anschlags auf das Satiremagazin Charlie Hebdo, auf dessen aktueller Ausgabe Houellebecqs Konterfei prangte. Die Karikatur auf der Titelseite zeigt Houellebecq rauchend als Magier, er sagt voraus, dass er 2015 seine Zähne verlieren werde, 2022 werde er dann zum Ramadan fasten.

Die islamistischen Anschläge von Paris im Januar und November 2015 machen es unwahrscheinlich, dass eine muslimische Partei eine wählbare Alternative zur Front National wird, der elementare Konflikt, den auch Unterwerfung aufzeigt, bleibt jedoch bestehen. Die beiden politischen Extreme, die die Grundfesten unserer Gesellschaft bedrohen sind Nationalismus und Islamismus. Sieben Prozent der Franzosen sind muslimisch, in Europa ist das bei weitem kein Spitzenwert. Anders als im ehemaligen Jugoslawien ist der Islam in Frankreich jedoch eine neue Religion, Westeuropa war nie Teil des osmanischen Reiches, es gibt keine gewachsene muslimische Tradition. So gerne Franzosen auch nordafrikanische Küche mögen, die Köche bleiben Fremdkörper. Seit 1905 sind Staat und Kirche in Frankreich gesetzlich getrennt, anders als in Deutschland gibt es keine Kirchensteuer, alle vor 1905 von Steuergeldern finanzierten Gotteshäuser sind staatliches Eigentum. Diese scharfe Trennung führte unter anderem zu einem Konflikt, als Nicolas Sarkozy vorschlug, muslimische Gebetsräume auf Staatskosten zu errichten, um den Nutzern die Integration zu erleichtern. Auch die staatlich geförderte Ausbildung von Imamen war angedacht. In Frankreich herrscht logisch folgend ein Kopftuchverbot in öffentlichen Schulen. Manche Muslime verärgert diese Einschränkung ihrer freien Religionsausübung. Rechte Politiker argumentieren, dass der mit dieser Beschwerde offenbarte Unwille, sich anzupassen, die Unvereinbarkeit von Islam und französischer Gesellschaft zeige. Es bedarf keiner besonderen Gedankenleistung, um die Wahrscheinlichkeit, dass eine Veränderung der französischen Gesellschaft in Richtung eines islamischen Staates im Falle einer muslimischen Mehrheit in der französischen Gesellschaft hoch einzuschätzen wäre. Es wundert also nicht, dass Veränderungen der Bevölkerungsstruktur instrumentalisiert werden, dass eine rechte Partei wie die Front National die Umfragen anführt, als gesetzt für den zweiten Wahlgang um das Präsidentenamt gilt; ungeachtet dessen sind 93 Prozent aller Franzosen keine Muslime, die Muslime werden noch für Jahrzehnte keine Mehrheit der Bevölkerung bilden.

700 Franzosen und Bewohner Frankreichs haben sich bisher dem Islamischen Staat angeschlossen. 2011 warnte Marine Le Pen davor, dass die Verschleierung lediglich die Spitze des Eisbergs der Islamisierung Frankreichs darstelle. Frankreichs Problem mit Migranten und der Bedrohung durch eine islamische Übernahme des Landes ist kein Neues; Algerien, Marokko und Tunesien waren Kolonien, die ersten beiden Länder bilden heute die größten Migrantengruppen. Sie wohnen zu großen Teilen in den Banlieues, den Vorstädten Frankreichs. Dort, in den HLM (‚Habitation à Loyer Modéré‘, sozialer Wohungsbau) leben vornehmlich die Einwanderer aus den ehemaligen französischen Kolonien in Afrika. Genau wie hierzulande sind die, in den Siebzigerjahren als modern und innovativ beworbenen, Wohnräume Brutstätten für Armut, Frustration und Gewalt.

Mehrfach kam es in der Vergangenheit dort zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Bewohnern und der Polizei. Bereits 1995 verarbeitete Mathieu Kassovitz die dauerhaft angespannte Lage in Hass; viel aktueller sind die großen Unruhen von 2005, die in den Vororten fast aller großen Städte Frankreichs wüteten. Damals wurden Stimme laut, die vor Parallelgesellschaften warnten. Dass diese nicht einfach mit dem Hochdruckreiniger entfernt können, wie es der damalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy schon im Sommer vor den Unruhen andeutete, ist klar.

Die Antwort auf dieses und weitere Probleme des französischen Staates liegt für die Front National in einem Immigrationsbann für gefährliche muslimische Länder, einem stärkeren Polizeiapparat und einem Rechtssystem, das auch vor der Todesstrafe nicht zwangläufig zurückschreckt. Klassische rechte Themen wie Protektionismus und eine Ablehnung der EU und des Euro gehören auch zum Wahlprogramm. Des Weiteren äußerte sich Marine Le Pen mehrfach ausgesprochen positiv über Vladimir Putin, nannte ich unter anderen den „Verteidiger der christlichen Tradition der europäischen Zivilisation“. Mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Grundvoraussetzungen klingt die Front National fast wie die Republikaner unter Donald Trump oder die AfD. Besonders mit Letzterer übereinstimmend sind Aussagen Le Pens aus dem April, in denen sie die Verantwortung Frankreichs für Kollaboration mit Deutschland leugnet. Im Juli 1942 trieben französische Polizisten tausende Juden zusammen, die später größtenteils dem Holocaust zum Opfer fielen. In Frankreich herrsche ein Bewusstsein für die dunkelsten Kapitel der Geschichte, nur die Gräueltaten kämen in der Schule vor, es sei wieder Zeit für Nationalstolz. Die Verbrechen Frankreichs im Zweiten Weltkrieg waren erst 1995 von Jacques Chirac offen eingeräumt worden.

Am 23. April findet der erste Wahlgang statt. Die beiden Bewerber mit den meisten Stimmen treten am 7. Mai in einer Stichwahl gegeneinander an. Die Umfrageergebnisse deuten darauf hin, dass Marine Le Pen im April den ersten Platz belegen wird, ihr Kontrahent wird allem Anschein nach Emmanuel Macron, ehemaliger Wirtschaftsminister und sozialliberal. Es wird eine Wahl der Gegensätze. Frankreich gegen Europa, konservativ gegen liberal, Protektionismus gegen Weltoffenheit. Am 10. April hat der Wahlkampf offiziell begonnen. Es geht um nicht weniger als Europas Zukunft.


Quelle Titelbild: mlt

Autor*in

Paul war seit Ende 2012 Teil der Redaktion. Neben der Gestaltung des Layouts schrieb Paul gerne Kommentare und ließ die Weltöffentlichkeit an seiner Meinung teilhaben. In seiner Freizeit studierte Paul Deutsch und Anglistik an der CAU.

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