Über die Nachwirkungen des Amoklaufs in Brokstedt

Vier Jahre lang ist auf meiner Pendlerstrecke Hamburg-Kiel im RE70 noch nie etwas Ungewöhnliches vorgefallen. Am 25. Januar hat sich jedoch ein gewisser Ibrahim A. dazu entschieden, in meinem Waggon wahllos Menschen mit einem Messer anzugreifen. Auch nach nun mehr als zwei Monaten beginnt mein Herz beim Schreiben dieses Textes wieder schneller zu schlagen und mein Körper Adrenalin auszuschütten. An diese Fluchtsituation erinnert, verkrampft sich so mancher Muskel, als würde ich gerade nicht auf dem Sofa sitzen und meine Mitbewohnerin im Nebenzimmer Abendessen kochen.  

Der Zufall 

Direkt am Anfang des Waggons sitzt man doch immer am besten, also fläzte ich mich gemütlich in das Sitzpolster, Schuhe und Jacke ausgezogen. Alles wie immer. Doch dann stürmte dieser Mann am anderen Ende in meinen Waggon hinein. Dass meine Sitzplatzwahl an diesem Tag möglicherweise über mein Leben entschieden hat, mag ich mir bis heute nicht vorstellen. Noch nie in meinem 21-jährigen Leben war ich in einer Notsituation oder musste vor irgendetwas oder irgendjemandem weglaufen. Ich habe noch nie einen Unfall miterlebt oder ernsthafte Gewalt zwischen Menschen gesehen.

Ohne jemals in Gefahr gewesen zu sein, hat sich mein Körper, als er einen Schrei und die Worte „Der hat ein Messer“ gehört hat, von einem Moment auf den anderen entschieden, einfach loszurennen. Ohne auch nur einen Blick in die Richtung zu werfen, aus der der Schrei gekommen sein könnte, wusste er, was zu tun ist. Ich weiß nicht, wie weit oder wohin mein Laptop von meinem Schoß geflogen sein muss, doch das war mir in dem Moment herzlich egal. Ich kann mich nicht genug bei meinen Instinkten bedanken, die so schnell reagiert haben. Beeindruckend, wie tief diese doch noch in jedem von uns verwurzelt zu sein scheinen. 

Die Gedanken in dem Moment, in dem man allem Anschein nach vor einem Attentäter wegläuft? Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet mir so etwas passiert. Ich weiß nicht, ob ich vor der Gefahr selber oder vor der Vorstellung, dass anderen Menschen gerade etwas passiert sein könnte, weggerannt bin. Mein Körper hat diese akute Gefahr wohl ernst genommen, denn auf einmal war ich vom Bahnsteig heruntergesprungen und lief neben den Gleisen her. Ohne Schuhe. Nicht, dass ich jetzt hinfalle und er mich kriegt. Nicht, dass ich das wirklich in Erwägung gezogen hätte, mir war doch noch nie was passiert.  

Der Bruch 

In dem Moment ist etwas in mir kaputt gegangen. Nicht nur das Vertrauen in die Menschen, welches mein Umfeld, meine Familie, meine Freunde und ich über zwanzig Jahre gehegt und gepflegt haben, sondern auch diese Naivität, dass mir selbst niemals etwas ‚passieren’ könnte. Trotz der schnellen Rückkehr zum Alltag innerhalb weniger Wochen bleibt  dieser Einschnitt, diese Erinnerung, dieser Zufall. Dieses Umgucken in öffentlichen Verkehrsmitteln, das Klammern an das Pfefferspray und natürlich dieses eine unwohle Gefühl in der Nacht.

Diese Erinnerung, die jedes Mal wiederkommt, wenn man in der Küche ein Messer offen liegen sieht. Dass ich die Augen vor dem Einschlafen manchmal unzählige Male öffnen und schließen muss, um zu kontrollieren, ob nicht doch jemand im Zimmer steht. Den Schmerz, den man jedes Mal für die Familien empfindet, wenn man an der blumenumrankten Station in Brokstedt vorbeifährt. Aber immer mitschwingend auch die Dankbarkeit für meine zufällige Sitzplatzwahl und an diese tief verwurzelten Instinkte, die richtig geschaltet haben.  

Auf einen Moment wie diesen kann man sich nicht vorbereiten. Auch wenn es am Anfang unvorstellbar wirkt, in den normalen Alltag zurückzukehren: Die Zeit heilt alle Wunden. Und irgendwann wirkt es nur noch wie ein entfernter, böser Traum. 

Autor*in

Laetitia Wendland studiert Anglistik und Germanistik im Profil Fachergänzung und ist seit Februar 2023 beim Albrecht mit dabei.

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