Gastartikel von Jacqueline Lindemeyer

Es war ein dunkler, grauer Regentag, an dem ich das erste Mal von „HeLa-Zellen“ hörte. Ich befand mich mitten in meinem Bachelorstudium in Biochemie und die Methode Zellkultur war allgegenwärtig. Alles, was der Professor zur Herkunft der meistverwendeten Zelllinie der Biochemie sagte, war jedoch, dass es sich um Gebärmutterhalskrebs-Zellen einer Frau mit dem Namenskürzel „HeLa“ handele. Weder sie noch ihre Familie hätten je ihr Einverständnis für die Verwendung ihrer Zellen gegeben. Ihr Name: Helen Lane, angeblich. Ihre Zellen: eine medizinische Revolution. Ohne „HeLa“ hätte es keine Impfung gegen Kinderlähmung gegeben. Auch der Zusammenhang zwischen dem humanen Papillomvirus (HPV) und Gebärmutterhalskrebs konnte mithilfe von HeLa-Zellen aufgeklärt werden. Heute steht jungen Frauen eine Impfung zur Verfügung, um sich vor dem gefährlichen Virus zu schützen. Doch den richtigen Namen hinter dem Kürzel „HeLa“ kannte lange Zeit niemand. 

Ein Buch bringt Licht ins Dunkel 

Vier Jahre später fiel mir im Zusammenhang mit der Black Lives Matter-Bewegung, die sich gegen Rassismus und Diskriminierung von Schwarzen Menschen und People of Color einsetzt, ein Buch in die Hände, das sowohl die Geschichte der Frau hinter der wohl berühmtesten Zelllinie erzählt als ihr auch endlich den richtigen Namen gibt: The Immortal Life of Henrietta Lacks (deutscher Titel Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks). Die US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin Rebecca Skloot erzählt darin neben der Geschichte eines Meilensteins der medizinischen Forschung auch die einer jungen Afroamerikanerin in den frühen 1950er Jahren. Die Recherche für das Buch dauerte mehr als zehn Jahre, bis es schließlich im Jahr 2010 veröffentlicht werden konnte. Es wurde ein New York Times-Bestseller und ist mittlerweile in über 25 Sprachen erschienen. Es kommen zahlreiche Angehörige von Henrietta Lacks zu Wort, die der Frau ein Gesicht geben, die unwissentlich Medizingeschichte geschrieben hat. Doch Skloot, selbst Biologin mit Bachelorabschluss, beleuchtet in ihrem Debüt auch die wissenschaftliche Seite. Sie zeichnet eine Chronologie einer medizinischen Revolution und erläutert allgemein verständlich, warum HeLa-Zellen die Forschung derart vorangebracht haben. Sie spinnt so ein Netz aus mehreren Handlungssträngen, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, aber am Ende eben doch eine Gemeinsamkeit aufweisen: Henrietta Lacks‘ unsterbliche Zellen. 

„I just want to know who my mother was“ 

Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert: Leben, Tod und Unsterblichkeit.  
Es beginnt mit einem persönlichen Vorwort von Rebecca Skloot und gibt einen Einblick in ihre persönliche Motivation, Henrietta Lacks‘ Geschichte zu erzählen. Darauf folgt eine Seite mit einem Vorwort von Henriettas jüngster Tochter Deborah. Sie bringt ihren Ärger darüber zum Ausdruck, dass die Zellen ihrer Mutter ohne Einverständnis für die Forschung verwendet und verkauft werden, während ihre Kinder sich nicht einmal eine medizinische Versorgung leisten können. Doch es geht ihr weniger um Geld als um die Geschichte ihrer Mutter, die so lange im Dunkeln lag. 

Und diese Geschichte erzählt das Buch in den nachfolgenden Kapiteln. In der ersten Episode erlebt der*die Leser*in beispielsweise die Fahrt von Henrietta und ihrem Ehemann David zum Krankenhaus der Johns Hopkins University in Baltimore. Während der Untersuchung wird bei der fünffachen Mutter Gebärmutterhalskrebs festgestellt. Diese Diagnose markiert zum einen den Anfang einer Leidensgeschichte, gleichzeitig aber auch den Startpunkt einer medizinischen Revolution. Denn Henrietta Lacks‘ Krebszellen sind so aggressiv, dass sie sogar außerhalb ihres Körpers in einem Reagenzglas überleben. Sie waren die ersten Zellen ihrer Art und überleben bis heute.  

Mehr als eine Biografie 

Doch Skloots Debüt geht über eine bloße Biografie hinaus. Sie porträtiert nicht nur das Leben von Henrietta Lacks und ihrer Familie, sondern auch die Entwicklung von „HeLa“. Der*die Leser*in lernt sowohl Henriettas Familie kennen als auch die Menschen hinter der Zelllinie. In jeder Episode kommen beteiligte Personen zu Wort, meist in unbearbeitet übernommenen Zitaten. So schafft die Autorin eine besondere Art von Authentizität und lässt den*die Leser*in in die Lebensrealität einer afroamerikanischen Familie in den 1950er Jahren eintauchen. Bemerkenswert ist hier, wie sie die verschiedenen Kapitel mit vollkommen alltäglichen Geschichten beginnen lässt und der Kontext erst später erkennbar wird. Besonders fällt hier die Detailgenauigkeit auf, mit der Skloot die Geschichten erzählt. Außerdem wählt sie stets spannende Schlusssätze für ihre Kapitel, die neugierig auf mehr machen. 

Auch die Betrachtung von (medizin-)ethischen Fragen sowie die Erörterung der rechtlichen Situation kommen nicht zu kurz. Skloot geht auf die Frage nach dem „Recht an den eigenen Zellen“ ein und stellt Fälle vor, die dem von Henrietta ähneln. Außerdem beantwortet sie die Frage, inwieweit die Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen illegal handelten und wie die Gesetzeslage zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war. Ein weiteres großes Thema des Buches sind das Recht auf Patientenaufklärung und die Bedeutung des „informed consent“, also der aufgeklärten Einwilligung in eine Studie oder Behandlung.  

Vor allem im letzten Abschnitt des Buches zeigt sich, dass Skloot Wissenschaftsjournalistin ist. Hier gibt ein kommentiertes Quellenverzeichnis die Möglichkeit, sich weiter zu informieren. Es ist ausführlich genug, um der Wissenschaftlichkeit Genüge zu tun, wirkt aber durch die Kommentare nicht wie ein bloßes Literaturverzeichnis.  

Skloot gelingt mit ihrem Buch ein Spagat zwischen Biografie und wissenschaftlicher Betrachtung. Das Werk gibt einer Frau ein Gesicht, die unwissentlich zu zahlreichen medizinischen Quantensprüngen beigetragen hat. Zudem geht es auf wissenschaftliche Hintergründe ein. Hier ist es bemerkenswert, dass Skloot dem*der Leser*in einen allgemein verständlichen Einblick gibt, sich aber nicht in Details verliert. Der Fokus bleibt stets auf den persönlichen Geschichten der beteiligten Personen. Das Buch liest sich eher wie ein Episodenroman als wie ein Sachbuch. Die lebendige, verständliche Sprache und die vielen persönlichen Anekdoten lassen die Frau hinter der wohl berühmtesten Zelllinie der Welt lebendig werden. Doch auch gesellschaftliche und wissenschaftshistorische Betrachtungen kommen nicht zu kurz. Sie geben dem Werk das nötige Fundament, treten aber selten in den Vordergrund. So bleibt das Buch auch für Menschen interessant und verständlich, die sich vorher weder mit medizinischer Forschung noch mit Wissenschaftsethik beschäftigt haben. Die Geschichte von Henrietta Lacks und ihrer Familie zieht den*die Leser*in in ihren Bann und vermittelt scheinbar „ganz nebenbei“ das nötige Sachwissen, um die Zusammenhänge zu verstehen. 

Nachwirkungen eines Bestsellers 

Auch wenn das Buch schon vor 10 Jahren erschienen ist, ist es relevanter als je zuvor. Es leistet einen wichtigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beitrag, auch im Kontext der Black Lives Matter-Bewegung. Zudem wirkt der Erfolg des Buches bis heute nach. Rebecca Skloot gründete 2010 die Henrietta Lacks Foundation. Die Stiftung unterstützt Menschen, die Teil von historischen medizinischen Experimenten waren, ohne davon zu wissen, damit einverstanden zu sein oder dafür entschädigt worden zu sein. So werden unter anderem Mitglieder von Henrietta Lacks‘ Familie in den Bereichen Bildung und medizinischer Versorgung unterstützt. Die Johns Hopkins Universität richtete eine Vorlesung in ihrem Namen ein, widmete ihr eine Seite auf der Universitätshomepage und ihre Zellen leben in den Laboren der ganzen Welt weiter. Also sollte mindestens jede*r, der*die schon einmal HeLa-Zellen in den Händen gehalten hat, dieses Buch lesen. Denn sonst sitzen noch weitere Generationen Studierende in den Hörsälen und fragen sich, wer die Frau war, die mit ihren Zellen die Welt verändert hat. 

Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks 
Autorin: Rebecca Skloot 
aus dem Amerikanischen von: Sebastian Vogel 
Erscheinungsjahr: 2010 
Verlag: Irisiana  
Seiten: 512

Autor*in

Hier veröffentlicht DER ALBRECHT seine Gastartikel – eingesandt von Studierenden, Professor*innen und Leser*innen der Zeitung.

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